Berlin. Die Zahl der Fälle von Magen-Darm-Krebs nimmt bei Jüngeren rasant zu. Eine neue Studie zeigt: Lebensstil und Gene könnten Auslöser sein.
Lange Zeit galt Krebs als eine der letzten großen Geißeln des Alters. Ein Gesundheitsrisiko, das meist erst jenseits der Lebensmitte sichtbar wurde. Doch diese Vorstellung verliert an Gültigkeit – laut einer aktuellen, umfangreichen Metaanalyse nimmt die Zahl bestimmter Krebsarten bei Menschen unter 50 Jahren weltweit deutlich zu. Besonders betroffen: der Magen-Darm-Trakt.
Veröffentlicht wurde die Analyse im renommierten Fachjournal „JAMA Network Open“. Das Forschungsteam sichtete mehr als 115 Studien, teils aus großen internationalen Krebsdatenbanken wie SEER (Surveillance, Epidemiology, and End Results) oder NCDB (National Cancer Database). Ihr Ziel: Ein klares Bild vom sogenannten Early-Onset Gastrointestinal Cancer (EO-GI) zu zeichnen – also Krebserkrankungen des Verdauungstrakts, die vor dem 50. Lebensjahr auftreten.
Weltweite Zunahme: Magen-Darm-Krebs trifft immer mehr unter 50-Jährige
Der Trend ist eindeutig: „EO-GI-Krebserkrankungen sind weltweit auf dem Vormarsch“, schreiben die Autorinnen und Autoren der Studie. Besonders drastisch sei der Anstieg bei Darmkrebs. So wurden im Jahr 2022 weltweit 185.000 Fälle bei unter 50-Jährigen dokumentiert, davon allein 21.000 in den USA. Die American Cancer Society bestätigt: Seit 2011 steigt die Zahl der Diagnosen bei Menschen unter 50 jährlich um etwa zwei Prozent.
Die Zunahme betrifft allerdings nicht nur den klassischen Darmkrebs – auch Magen‑ und Speiseröhrenkrebs sowie seltenere Tumore wie Appendix‑ und Gallenwegtumore zeigen signifikante Zuwächse im frühen Lebensalter. Die Forschenden sprechen von einer „stillen Epidemie“, die bislang kaum öffentlich wahrgenommen wird.
Für den Bauchspeicheldrüsenkrebs liegt der jährliche Anstieg in den USA bei 2,5 Prozent. In einigen Ländern, darunter Deutschland, liegt der Anstieg sogar bei mehr als acht Prozent pro Jahr. Ein noch rasanteres Wachstum zeigt sich bei Appendixkrebs, einer eher seltenen, aber zunehmend häufiger diagnostizierten Krebsart: In den USA stieg die Zahl der Fälle zwischen 2010 und 2019 jährlich um durchschnittlich 15,6 Prozent.
Auch Speiseröhrenkrebs, Gallenwegstumoren und neuroendokrine Tumoren treten immer häufiger bei Menschen unter 50 auf. Die Daten zeigen, dass diese Krebsarten oft denselben Mustern folgen wie Darm- und Bauchspeicheldrüsenkrebs: Sie treten früher auf – und werden häufiger übersehen.
Warum bekommen junge Menschen Krebs? Ursachen und Risikofaktoren
Die Suche nach den Ursachen ist komplex – und liefert keine einfachen Antworten. Sicher ist: Die Genetik spielt eine Rolle, aber sie erklärt nur einen Teil des Problems. Bereits frühere Studien hatten gezeigt, dass erbliche Faktoren eine gewisse Bedeutung haben. Auch die aktuelle Analyse bestätigt das: In 15 bis 30 Prozent der untersuchten Fälle von Magen-Darm-Krebs bei unter 50-Jährigen wurden vererbbare Genmutationen festgestellt – insbesondere bei Darmkrebs und Bauchspeicheldrüsenkrebs.
Doch die große Mehrheit der jungen Patientinnen und Patienten hatte keine familiäre Vorbelastung. Das lenkt den Blick auf eine andere Erklärung, die in der Studie eine zentrale Rolle spielt: den sogenannten Geburtskohorteneffekt. Damit ist gemeint, dass bestimmte Jahrgänge offenbar einem höheren Erkrankungsrisiko ausgesetzt sind – nicht durch Vererbung, sondern durch die Bedingungen, unter denen sie aufgewachsen sind. Die Daten zeigen: Wer 1990 geboren wurde, hat ein doppelt so hohes Risiko für Darmkrebs und ein vierfach erhöhtes Risiko für Rektumkarzinome im Vergleich zu Menschen des Jahrgangs 1950.
Was ist in dieser Zeit geschehen? Die Forschenden vermuten eine ungünstige Kombination von Lebensstilfaktoren: Eine westliche Ernährung, Bewegungsmangel, Übergewicht, Rauchen und regelmäßiger Alkoholkonsum stehen im Verdacht, das Risiko zu erhöhen. Auch der Konsum stark zuckerhaltiger Getränke, die nicht-alkoholische Fettleber (NAFLD) sowie ein Vitamin-D-Mangel werden als mögliche Mitverursacher genannt. Der Krebs beginnt also oft nicht im Erbgut – sondern im Alltag.
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Symptome und Fehldiagnosen: Warum junge Menschen oft zu spät diagnostiziert werden
Ein zentrales Problem bleibt die späte Erkennung. Junge Menschen werden nicht routinemäßig gescreent – und erste Symptome wie Bauchschmerzen, Verstopfung oder Reflux werden oft bagatellisiert. „Früher hätte niemand bei einer 35-Jährigen an Darmkrebs gedacht“, sagt Dr. John Marshall von der Colorectal Cancer Alliance gegenüber NBC News. Infolgedessen landen viele Betroffene mit fortgeschrittenem Tumorstadium in der Klinik – mit entsprechend schlechterer Prognose.
Auch Dr. Howard Hochster vom Rutgers Cancer Institute betont: „Wir sehen viele dieser Patienten zu spät, weil niemand bei unter 40-Jährigen ernsthaft mit Krebs rechnet.“ Die neue Studie schlägt deshalb vor, Vorsorgerichtlinien für jüngere Menschen anzupassen – insbesondere bei familiären Vorbelastungen oder auffälligen Symptomen.
Screening-Empfehlungen im Umbruch: Reicht Vorsorge ab 50 noch aus?
In den USA wurde das Einstiegsalter für die Darmkrebsvorsorge bereits auf 45 Jahre gesenkt. Deutschland hingegen hält bislang an der Marke von 50 fest – und das, obwohl Studien wie die aktuelle JAMA-Analyse zeigen, dass dies für viele Menschen zu spät sein könnte.
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Andere Krebsarten wie Bauchspeicheldrüsen- oder Magenkrebs sind bislang überhaupt nicht Teil routinemäßiger Vorsorgeprogramme – ein Versäumnis, das in der neuen Studie deutlich kritisiert wird. „Wir brauchen neue Wege der Früherkennung, gerade auch für die weniger häufigen, aber oft tödlichen Krebsarten“, sagt Dr. Kimmie Ng, Mitautorin der Studie und Leiterin des Young-Onset Colorectal Cancer Centers in Boston.
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Therapie und Prognose: Jünger heißt nicht automatisch gesünder
Ein weiterer paradoxer Befund der Studie: Obwohl jüngere Krebspatientinnen und Krebspatienten in der Regel körperlich fitter sind und intensiver behandelt werden, sind ihre Überlebenschancen nicht zwangsläufig besser. Im Gegenteil – laut der Analyse schneiden sie zum Teil sogar schlechter ab als ältere Erkrankte. Ein möglicher Grund sei der bereits erwähnte späte Diagnosezeitpunkt. Außerdem zeigten manche früh auftretenden Tumoren eine aggressivere Biologie, etwa genetische Besonderheiten, die in klassischen Studien älterer Patientengruppen bislang kaum erfasst wurden.
Auch deshalb fordern Fachleute wie Dr. Kimmie Ng, dass bei allen unter 50-Jährigen standardmäßig auf genetische Risikofaktoren getestet werde. Die Rate vererbbarer Mutationen liege in dieser Altersgruppe zwischen 15 und 30 Prozent, so Ng. Viele dieser genetischen Ursachen blieben bislang unerkannt – und damit auch unbehandelt.