Willkommen bei Europa Kompakt, Ihrer umfassenden Übersicht der europäischen Nachrichtenlage.
In der heutigen Ausgabe:
- Techno, Politik und Lukas Sieper
- Ukraine reagiert auf Kritik am Korruptionsgesetz
- Brüssel in Beijing
Brüssel im Überblick
Es ist ein verschlafener Spätabend im dritten Stock des Europäischen Parlaments – es sei denn, man weiß, wo man klopfen muss.
Versteckt im Labyrinth der Flure dröhnt der sonore Bass eines Raves. Nachdem die letzte Party etwas aus dem Ruder gelaufen ist, versuchen die Organisatoren diesmal, sich an die Regeln zu halten.
Willkommen im Büro des Europaabgeordneten Lukas Sieper – umfunktioniert zum wohl inoffiziellsten Clubabend des Parlaments. Ein DJ mit Besucherpass legt Techno auf, das Bier fließt aus einer provisorischen Bar.
Gerade einmal 28 Jahre alt war Sieper, als er im vergangenen Jahr mit 228.000 Stimmen aus Deutschland ins Parlament gewählt wurde – mit einem Wahlkampfbudget von nur 2.500 Euro für seine Mini-Partei „Partei des Fortschritts“, die er als Student 2020 in Köln gegründet hatte.
„Ich suche immer nach Lücken, wo ich Einfluss nehmen kann – auch wenn ich hier kein Teil von etwas Größerem bin“, sagte er uns.
Ein Jahr später gilt Sieper als einer der unkonventionellsten Neuzugänge im EU-Parlament.
Man sagte ihm, er müsse sich einer Fraktion anschließen, um hier relevant zu sein – tat er nicht.
Und jetzt, zur Überraschung vieler, nicht zuletzt seiner eigenen, bringt er Änderungsanträge durch, spricht regelmäßig im Plenum und lehnt Angebote großer Fraktionen ab. Seine Partei, so sagt er, lehne jeglichen Extremismus und Populismus ab und lasse sich ideologisch keiner klassischen Richtung zuordnen. Sein eigentliches Ziel sei die Funktionsweise des Parlaments selbst.
Sein Profil als fraktionsloser Abgeordneter erinnert an einen anderen Neuling: den Influencer Fidias, der zuletzt mit prorussischen Tendenzen auffiel. Die beiden sitzen nebeneinander im Plenarsaal – und sind politisch über Kreuz. Besonders bei einer Abstimmung über von Russland entführte ukrainische Kinder gerieten sie aneinander. „Ich habe ihn zur Rede gestellt“, sagt Sieper. „Seine politische Entwicklung ist eine Tragödie.“
Sieper versteht sich selbst als „demokratischer Pragmatiker“. Früher Mitglied der CDU, empfindet er die Grünen heute als zu idealistisch.
Laut Sieper braucht es keine Fraktionszugehörigkeit, um im EU-Parlament Einfluss zu nehmen – man müsse nur wissen, wie das Spiel funktioniert. Als ausgebildeter Jurist verbringt er viele Nächte damit, das parlamentarische Regelwerk zu durchforsten – und Wege zu finden, sich Gehör zu verschaffen, auch ohne Rückhalt durch eine Gruppe.
Besonders stolz ist er auf seine Redebilanz: 193 Wortmeldungen im Plenum seit seiner Wahl. Zudem beherrscht er das sogenannte „Blue-Card“-System, mit dem Abgeordnete andere während Debatten direkt herausfordern können.
Diese Woche stellte er ein neues Transparenz-Tool vor – programmiert von einem 19-jährigen Entwickler seiner Partei und einem kleinen IT-Team. Es erlaubt Bürger:innen, das Abstimmungsverhalten von Europaabgeordneten nachzuvollziehen. Sieper übergab es dem Parlament kostenlos.
Mit der Zeit hat sich Sieper als EU-kritischer, aber nicht EU-skeptischer Abgeordneter etabliert – einer, der die Institution scharf kritisiert, ohne ihre Existenz infrage zu stellen.
„Das Plenum soll lebendig sein, ein Ort der Debatte, der Demokratie.“ Doch in Straßburg, sagt er, „kommen die Abgeordneten dienstags, gehen donnerstags – der Plenarsaal ist leer“. „Die wichtigen Entscheidungen werden unter den Fraktionsvorsitzenden getroffen.“
So engagiert Sieper auch ist, hat er erkannt: Aus der politischen Peripherie heraus ist nur begrenzt Wirkung möglich. In einem System für Insider ist er zwar dabei – aber nicht eingeladen. Und das weiß er auch.
EU rügt ukrainischen Anti-Korruptions-Fehltritt – Selenskyj lenkt ein
Die Entscheidung der Ukraine, die Unabhängigkeit ihrer Anti-Korruptionsbehörden einzuschränken, „war ein Fehler“, sagte EU-Verteidigungskommissar Andrius Kubilius am Donnerstag gegenüber Euractiv. Hintergrund ist ein umstrittenes Gesetz, das die unabhängigen Anti-Korruptionsstellen faktisch unter Regierungskontrolle stellt.
In einem raschen Kurswechsel reichte Präsident Wolodymyr Selenskyj ein neues Gesetz im Parlament ein, das die Unabhängigkeit der Behörden wiederherstellen und stärken soll – eine Reaktion auf landesweite Proteste und zunehmenden Druck aus der EU.
„Der größte Fehler lag nicht im Inhalt, sondern in der Art und Weise des Vorgehens“, so Kubilius.
Dennoch betonte er, dass die Ukraine großes Potenzial im Verteidigungs- und Raumfahrtbereich habe – und eines Tages sogar Teil einer künftigen Europäischen Verteidigungsunion sein könne, sollte diese Realität werden. Das vollständige Exklusiv-Interview erscheint am Nachmittag im Verteidigungs-Newsletter Firepower von Euractiv. Sie können ihn hier abbonieren.
Exklusiv: Ungarn lehnt EU-Plan zur Auslaufregelung für ukrainischen Schutzstatus ab
Budapest hat sich geweigert, eine Empfehlung des Rats mitzutragen, wie der temporäre Schutz für Ukrainer:innen schrittweise beendet werden könnte. Besonders kritisiert wurde der Vorschlag der EU-Kommission zu sogenannten „Unity Hubs“.
Die EU-finanzierten Infozentren, die Integration und freiwillige Rückkehr unterstützen sollen, sind für Budapest ein No-Go. Man lehne diese „nicht ausreichend entwickelten neuen Maßnahmen“ ab, hieß es.
In einem von Euractiv eingesehenen Vermerk warnt Ungarn, das Projekt berge „eine Reihe von Sicherheitsrisiken“ und „könnte die Sicherheit der gesamten Union gefährden“. Die Initiative fällt in den Zuständigkeitsbereich der neuen EU-Sondergesandten für Ukrainer, der früheren Innenkommissarin Ylva Johansson.
Alle anderen Mitgliedstaaten einigten sich auf einen dänischen Kompromiss – ebenfalls von Euractiv eingesehen – der Frontex erlaubt, bei Ausreisen zu unterstützen, und internationalen Organisationen den Betrieb freiwilliger Rückkehrprogramme ermöglicht. Zudem wurde die Formulierung gestrichen, wonach Mitgliedstaaten Erkundungsreisen für Ukrainer:innen unterstützen sollen. Die Empfehlung soll nach der Sommerpause verabschiedet werden.
EU-USA-Handel: Brüssel erhöht Druck mit 93-Milliarden-Paket
Die EU hat gestern ein Vergeltungspaket im Umfang von 93 Milliarden Euro gegen US-Waren verabschiedet. Ziel ist es, Washington zu einem Handelsabkommen zu bewegen, das Trumps angedrohten pauschalen Zoll von 30 auf 15 Prozent reduziert.
Die Liste vereint zwei frühere Maßnahmenpakete und betrifft eine breite Palette amerikanischer Produkte, darunter Flugzeuge, Autos, Wein sowie medizinische und elektrische Geräte.
EU-Diplomaten zeigen sich optimistisch, dass Präsident Trump bald ein Abkommen nach dem Vorbild der kürzlich getroffenen Einigung mit Japan absegnet – diese sieht einen 15-Prozent-Zoll auf Autos und die meisten anderen Güter vor, berichtet unser Kollege Thomas Moller-Nielsen.
Olof Gill, Sprecher der EU-Kommission für Handel, sagte gestern vor Journalist:innen: Ein Deal mit Washington sei nun „in greifbarer Nähe“. Die Zölle sollen am 7. August in Kraft treten – könnten jedoch jederzeit ausgesetzt werden.
Exportkontrollen: Berlin und Paris stellen sich gegen Brüsseler Pläne
Deutschland und Frankreich sind sich einig: Bei Waffenexporten hat Brüssel nichts mitzureden. Das machten die Verteidigungsminister beider Staaten am Donnerstag unmissverständlich klar – und erteilen damit den Ambitionen der EU-Kommission, die Ausfuhrregeln zu lockern, eine klare Absage.
Verteidigungsminister Boris Pistorius erklärte, Entscheidungen über Waffenexporte seien „ausschließlich“ Sache der nationalen Regierungen. Die EU und die Kommission „haben in dieser Frage keine Zuständigkeit“.
Die Unterstützung aus Berlin stärkt Frankreichs Position. Trotz früherer Proteste aus Paris hatte die EU-Kommission erst letzten Monat im Verteidigungspaket erneut eine Lockerung der Exportkontrollen vorgeschlagen. In den kommenden Monaten soll zudem die EU-Transfer-Richtlinie überarbeitet werden.
Budapester Bürgermeister als Verdächtiger im Pride-Fall benannt
Budapests Bürgermeister Gergely Karácsony wurde von der Polizei als Verdächtiger vorgeladen – wegen der Pride-Veranstaltung im vergangenen Monat, die trotz massiven Widerstands der Regierung stattfand.
Wie ungarische Medien berichten, ermittelt das Nationale Ermittlungsbüro wegen einer angeblich „verbotenen Versammlung“ gegen Unbekannt.
„Ich bin jetzt ein Verdächtiger – und wenn das der Preis dafür ist, für Freiheit und Rechte einzustehen, dann bin ich umso stolzer darauf“, schrieb Karácsony in sozialen Medien.
Die Veranstalter:innen von Budapest Pride erklärten gegenüber Euractiv, dass bisher niemand von ihnen kontaktiert worden sei. „Es handelte sich um eine offizielle Veranstaltung der Stadt. Die Polizei hat hier nichts zu untersuchen – es war keine Demonstration.“
Die EU-Kommission reagierte auf eine Anfrage zum Vorgang bis Redaktionsschluss nicht.
Europa im Überblick
PARIS
Frankreich wird im September bei der UN-Generalversammlung einen palästinensischen Staat anerkennen, kündigte Präsident Emmanuel Macron am Donnerstag an.
PARIS | BRÜSSEL
Belgien und Frankreich haben eine verstärkte Zusammenarbeit im Bereich der Kernenergie vereinbart – darunter Reaktorverlängerungen, kleine modulare Reaktoren sowie Lieferketten. Die Entscheidung folgt auf den belgischen Kurswechsel beim Atomausstieg und verleiht einem wachsenden pro-nuklearen Bündnis in Europa neuen Schwung. Die EU öffnet sich zunehmend für Kernenergie als Teil ihrer Dekarbonisierungsstrategie. Weiterlesen.
MADRID
Spaniens Arbeitsmarkt verzeichnet ein neues Rekordhoch: Mehr als 22 Millionen Menschen sind erwerbstätig, die Arbeitslosenquote sank auf 10,3 Prozent – den niedrigsten Stand seit der Finanzkrise 2008, wie nationale Daten am Donnerstag zeigten.
Die Zahl der Beschäftigten stieg im zweiten Quartal 2025 im Vergleich zum Vorjahr um 503.300, vor allem in den Bereichen Dienstleistungen, Industrie und Bau. Wirtschaftsminister Carlos Cuerpo wertete die Zahlen als Beleg für die „hohe Dynamik“ der spanischen Wirtschaft.
ATHEN
Griechische Richter:innen protestieren gegen die Regierung, nachdem diese ihre Vorschläge für Ernennungen an oberste Gerichte ignoriert hat – trotz einer Reform von 2024, die mehr Transparenz schaffen sollte. Obwohl bereits vor politischem Einfluss auf die Justiz gewarnt wurde, bleibt die Europäische Kommission bislang still. Weiterlesen.
WARSCHAU
Der Bau eines wichtigen Containerterminals in Świnoujście wurde vorübergehend gestoppt, nachdem ein Gericht die Umweltgenehmigung ausgesetzt hat. Das berichtete der polnische Sender Radio ZET. Der Entscheidung war eine Beschwerde der deutschen Umweltorganisation Lebensraum Vorpommern vorausgegangen, die erhebliche Schäden für das umliegende Ökosystem befürchtet.
PRAG
Die tschechische Polizei hat ein Verfahren wegen Hassrede gegen Tomio Okamura vorgeschlagen – den in Tokio geborenen Vorsitzenden der rechtspopulistischen Partei SPD. Hintergrund sind migrationsfeindliche Wahlplakate aus dem EU-Wahlkampf 2024. Okamura weist die Vorwürfe zurück und spricht von einem politischen Manöver vor der Wahl im Oktober. Weiterlesen.
Ebenfalls lesenswert auf Euractiv
Keffiyeh-Kontroverse: Palästina-Symbol im EU-Parlament erlaubt – oder doch nicht?
Im Europaparlament scheint sich eine ähnliche Debatte wie im Bundestag anzudeuten, wo Bundestagspräsidentin Julia Klöckner die Geschäftsordnung des Hauses in Bezug auf Kleidung sehr streng auslegt. Mehr als eine Woche nach dem aufsehenerregenden Rauswurf eines Mitarbeiters aus dem Israel-Palästina-Ausschuss wegen des Tragens eines traditionellen Keffiyeh gibt es vom EU-Parlament weiterhin keine klare Auskunft darüber, was genau passiert ist – und warum.
„Es gibt keinen formellen Dresscode im Parlament“, erklärte ein Sprecher gegenüber Euractiv. Warum also wurde der Mitarbeiter des Saals verwiesen? Unser Kollege Magnus Lund Nielsen hakte beim Parlament nach. Weiterlesen.
Von der Leyen ruft zu „pragmatischem“ EU-China-Verhältnis auf
Europa strebe ein „pragmatisches“ Verhältnis zu China an, sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Donnerstag nach dem gestrigen EU-China-Gipfel in Peking.
„Ich nehme aus dem Gipfel mit, dass wir trotz unserer Differenzen – und die gibt es – viel gemeinsam erreichen können, wenn wir pragmatische Lösungen finden“, erklärte sie. Von der Leyen betonte die Dringlichkeit, chinesische „Überkapazitäten“ zu adressieren – besonders vor dem Hintergrund der Sorge, dass Trump-Ära-Zölle zu einer Flut billiger chinesischer Waren auf dem EU-Markt führen könnten.
„Trotz unserer Differenzen können wir pragmatische Lösungen finden“, wiederholte von der Leyen. Weiterlesen.
Rechtsaußen-Gruppe „Patriots for Europe“ will EU-Klimagesetz 2040 kippen
Der tschechische EU-Abgeordnete Ondřej Knotek, Berichterstatter des Europäischen Parlaments für das geplante Gesetz zur Senkung der EU-Treibhausgasemissionen um 90 Prozent gegenüber 1990, will den Entwurf komplett verwerfen lassen.
Am Donnerstag kündigte Knotek an, er werde sich für eine vollständige Ablehnung des Gesetzes starkmachen – zwei Wochen nachdem die rechtsnationale Fraktion „Patriots for Europe“ die Kontrolle über das Dossier in einem umstrittenen Hinterzimmerdeal übernommen hatte. Nur wenige Tage zuvor hatten zentristische Fraktionen versucht, das Verfahren zu beschleunigen. Weiterlesen.
Agenda
- Haushaltskommissar Serafin besucht Polen – Gespräche über Vorschlag zum nächsten langfristigen EU-Haushalt
- Erweiterungskommissarin Kos in der Türkei – Treffen mit Außenminister Hakan Fidan