Thomas Lechner bezieht gerne Stellung. Nach dem Anschlag auf eine Gewerkschaftsdemonstration im Februar organisierte der parteilose Politiker, der der Fraktion der Linken im Stadtrat angehört, spontan eine Kundgebung vor der Feldherrnhalle und kritisierte Hetze gegen Migranten im Wahlkampf. Vor zwei Jahren erschien er im Stadtrat mit wallendem blonden Haar, Lippenstift und Rock, um sich in der Debatte um eine Lesung von Draqkünstlern für Kinder zu positionieren. Und kürzlich beim Christopher Street Day in München trat er in einem Kostüm auf, das eine Melone symbolisieren sollte, und animierte Teilnehmer dazu, „free Palastine“ zu rufen.
Auch bei Aktionen von „München ist bunt“ engagierte sich der Kommunalpolitiker in den vergangenen Jahren. Doch jetzt hat Lechner öffentlichkeitswirksam seinen Austritt aus dem Verein erklärt. Auf Facebook und seiner Website veröffentlichte er eine Bildmontage mit dem Logo der Organisation: „München war einmal bunt“, steht da. Darunter ist Lechners offener Brief an den Vorstand zu lesen. Er verurteile „aufs Schärfste“, in welche Richtung sich der Verein in den vergangenen Monaten entwickelt habe, schreibt der Stadtrat.
Was Lechner zu diesem Schritt veranlasste: „München ist bunt“ und andere zivilgesellschaftliche Gruppen hatten in der vergangenen Woche zur Teilnahme an einer Menschenkette zum Schutz der Synagoge am Sankt-Jakobs-Platz aufgerufen, um sich mit jüdischem Leben in München zu solidarisieren. Dies war eine Reaktion auf eine Propalästina-Demo, die nur wenige hundert Meter von der Synagoge entfernt stattfand, und zwar ausgerechnet am Freitagabend, wenn Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde in der Synagoge den Schabbat mit einem Gottesdienst einleiten. Münchner Juden hatten die Demo als kalkulierten Akt der Einschüchterung und Bedrohung empfunden.
Doch Stadtrat Lechner meint, „München ist bunt“ selbst habe mit dem Aufruf zur Teilnahme an der Menschenkette „eine Initiative mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit durchgeführt und somit gegen die selbst gesetzten Ziele und Werte verstoßen“. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ist eine ideologische Einstellung: Menschen werten andere Menschen ab, weil sie etwa jüdisch, muslimisch, homosexuell oder Frauen sind. Es ist der maximale Vorwurf an einen Verein, der sich entschieden gegen Ausgrenzung wendet und für eine tolerante Stadtgesellschaft eintritt.
Micky Wenngatz, Vorsitzende von „München ist bunt“, weist Lechners Vorwurf entschieden zurück. Sie sagt, anstatt „die berechtigten Sorgen der jüdischen Gemeinde“ ernst zu nehmen, verdrehe Lechner die Realität: „Aus einem klaren Zeichen gegen Antisemitismus konstruiert er einen Vorwurf des antimuslimischen Rassismus.“ Die Menschenkette habe sich nicht gegen Muslime oder Palästinenser gerichtet, sondern gegen eine Demonstration eines vom Verfassungsschutz beobachteten Netzwerks. Durch dessen Rhetorik und die bewusste Wahl der Route in der Nähe der Synagoge sei dies als Provokation und Bedrohung empfunden worden – „zu Recht“, wie Wenngatz sagt.
An der Demo am Freitag vor einer Woche beteiligten sich rund 750 Menschen. Sie zogen mit Schildern, Trommeln und Palästina-Fahnen vom Rindermarkt ins Gärtnerplatzviertel und zurück. Gefolgt waren sie dem Aufruf zur „Marschdemo“ von „Palästina spricht“, einer Gruppe, die der Verfassungsschutz beobachtet.
Wie auf Videos zu sehen ist, die verschiedene Dokumentationsstellen veröffentlichten, skandierten die Demonstrierenden lautstark antisemitische Parolen („Zionisten sind Faschisten“), wünschten israelischen Soldaten den Tod („Death, death to IDF“) oder feierten Aktionen der Huthi-Miliz, die im Roten Meer immer wieder Frachtschiffe angreift und dabei Seeleute tötet. Der Slogan der militanten Islamisten: „Tod für Amerika, Tod für Israel, Verflucht seien die Juden, Sieg dem Islam.“ Circa 150 Beamtinnen und Beamte des Polizeipräsidiums München waren im Einsatz. Mit Absperrgittern und Kontrollstellen regelten sie den Zugang zum Sankt-Jakobs-Platz und sperrten den Oberanger als Verbindungsstraße vom Rindermarkt zur Synagoge.
Polizisten schützen den Jakobsplatz mit der Synagoge vorsorglich, während eine Propalästina-Demo wenige hundert Meter entfernt stattfindet. (Foto: Martin Bernstein)
Auch Lechner selbst marschierte bei der Demo mit. Auf Nachfrage schreibt er, sich an „keinen einzigen Angriff oder auch reale Bedrohung der Synagoge oder ihrer Mitglieder“ durch Demoteilnehmer erinnern zu können. „München ist bunt“ habe einen nötigen Schutz der Synagoge „herbeikonstruiert“ und so den Demoteilnehmern einen „möglichen Angriff“ unterstellt, so Lechners Vorwurf.
Micky Wenngatz sagt, Lechner versuche, zivilgesellschaftliche Initiativen wie „München ist bunt“ zu diskreditieren. Dies hält sie für „gefährlich“. Lechner schwäche damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt und spiele Demokratiefeinden in die Hände. „Der Schutz jüdischen Lebens ist kein Ausdruck von Spaltung, sondern von einer wehrhaften Demokratie“. Wer diesen Schutz als Ausgrenzung empfinde, „sollte sich fragen, wem er sich in diesem Moment wirklich zuwendet und von wem er sich abwendet“, so Wenngatz.
In der kommenden Woche findet wieder eine Propalästina-Demo in München statt, wieder in der Altstadt, wieder am Freitagabend um 18.30 Uhr zu Beginn des Schabbats. Das hat das Kreisverwaltungsreferat (KVR) der SZ bestätigt. In Gesprächen mit der Behörde hätten die Veranstalter angekündigt, diesmal eine Route zu wählen, „die nicht an der Synagoge vorbeiführt“, wie eine KVR-Sprecherin sagt. Ausgangs- und Schlusskundgebung sind am Marienplatz geplant. Bayerns Antisemitismusbeauftragter Ludwig Spaenle hatte am Donnerstag gefordert, die Stadt München dürfe „keine judenfeindlichen Demonstrationen mehr am oder beim Jakobsplatz“ genehmigen. „Es kann nicht sein, dass Jüdinnen und Juden wieder Angst haben, in München ihren Glauben zu leben.“