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Die militärische Situation im Donbass spitzt sich zu. Russland könnte schon bald die Stadt Pokrowsk vollständig einkesseln. Militäranalyst Franz-Stefan Gady berichtet von seinem jüngsten Besuch an der Front.

Mittlerweile ist die Stadt Pokrowsk im Donbass fast vollständig zerstört. Seit Monaten liefern sich ukrainische Verteidiger und russische Angreifer im Süden der Region Donezk erbitterte Kämpfe um den Ort. Einst lebten rund 60.000 Menschen in Pokrowsk, heute steht in der Stadt kaum mehr ein Stein auf dem anderen. Ihre strategische Lage an einem Verkehrsknotenpunkt der Region macht Pokrowsk dennoch zu einem Hochwertziel für die Kremltruppen.

Der Militäranalyst Franz-Stefan Gady ist erst vor wenigen Tagen von einer Forschungsreise an der Front im Donbass zurückgekehrt. „Die Russen sind dort dabei, eine systematischere und auch anpassungsfähigere Form der Drohnenkriegsführung zu implementieren, die man so bisher von ihnen nicht kannte“, sagt Gady im Interview mit t-online. Der Österreicher berichtet von seinen Eindrücken von der Front – und erklärt, warum „Rubikon“ dort zu einem geflügelten Wort geworden ist.

t-online: Herr Gady, Sie sind erst kürzlich aus der Ukraine zurückgekehrt, wo Sie die Front im Donbass besucht haben. Was haben Sie dort beobachtet?

Franz-Stefan Gady: Nach wie vor liegen die Hauptangriffsachsen der Russen im südlichen Donezk. Die Städte Kostjantyniwka und Pokrowsk sind dabei die zwei großen Schwergewichte der Angriffe der russischen Streitkräfte. Von einer Sommeroffensive würde ich dabei übrigens nicht sprechen. Dieses Bild, das zuletzt oft vermittelt wurde, halte ich für falsch.

(Quelle: Michael Kofman)

Franz-Stefan Gady (*1982) ist unabhängiger Militäranalyst. Er berät Regierungen und Streitkräfte in Europa und den USA unter anderem in Fragen der Zukunft der Kriegsführung. Gady war mehrfach in der Ukraine, in Afghanistan und im Irak, wo er jeweils ukrainische, afghanische Einheiten und Nato-Truppen sowie kurdische Milizen bei Einsätzen begleitet hat. Sein Buch Die Rückkehr des Krieges. Warum wir wieder lernen müssen, mit Krieg umzugehen ist für den Deutschen Sachbuchpreis 2025 nominiert.

Wie würden Sie die Lage dann beschreiben?

Die offensiven Operationen der Russen haben bereits im März begonnen und werden wahrscheinlich auch nicht im Sommer aufhören. Es handelt sich vielmehr um kontinuierliche Angriffe, wobei Russland jetzt das Tempo noch einmal hochschraubt. Spricht man von einer Offensive, so suggeriert das einen geplanten Zeitraum und ein bestimmtes Ziel, etwa die Eroberung von Territorium.

Und darum geht es den Kremltruppen aktuell nicht?

Zumindest nicht vorrangig. Das Hauptziel der Russen ist noch immer die Abnutzung der ukrainischen Verteidiger. Sie wollen ihnen schwere Verluste zufügen. Das lässt sich auch an der Taktik der Russen ablesen.

Wie gehen die Russen im Donbass vor?

Sie greifen täglich und kontinuierlich in kleineren Gruppen an. Die Russen versuchen also gar nicht erst, größere Einheiten zusammenzuziehen, um größere Durchbrüche zu erzielen. Es geht ihnen darum, die Ukrainer zu ermatten und zu dezimieren. Natürlich manifestiert sich das dann auch in Gebietsverlusten auf ukrainischer Seite, jedoch eher als Nebeneffekt.

Besonders im Raum Pokrowsk hat sich die Lage zuletzt zugespitzt. Russische Einheiten sollen bereits in Randbezirke der Stadt eingedrungen sein. Steht die Stadt vor dem Fall?

Pokrowsk wird wahrscheinlich früher oder später von den russischen Truppen komplett eingeschlossen werden. Der Umklammerungsring wird langsam, aber stetig enger geschnürt. Auch die letzten Zufahrtsstraßen stehen mittlerweile unter ständiger Beobachtung und Angriffen durch russische Drohnen. Und auch an den Flanken haben die Russen in den letzten Tagen beachtliche Fortschritte gemacht. Daher ist die Gefahr einer Einkesselung gegeben. Die große Frage ist nun, wie schnell die Ukrainer sich und ihre Ausrüstung zurückziehen können. Die Lage ist brenzlig.

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Manche Militärbeobachter sprechen sogar von einem drohenden Zusammenbruch der Front bei Pokrowsk.

Das sehe ich nicht – und das möchte ich betonen. Die Ukraine kann noch taktische Rückzüge durchführen und die Front stabilisieren. Es kommt also auf die Entscheidungen der ukrainischen Militärführung an. Wenn Pokrowsk mit allen Mitteln gehalten werden soll, kann dort ein Szenario entstehen wie 2023 in Bachmut. Dort haben die Ukrainer genauso wie die Russen schwere Verluste erlitten. Es stimmt durchaus, dass die Situation aktuell nicht stabil ist. Auch die Stadt Konstjantyniwka wird vermutlich schwer zu halten sein. So katastrophal wie manche Beobachter die Lage im Donbass beschreiben, ist sie jedoch meiner Ansicht nach nicht.