Wolodymyr Selenskyj macht einen Rückzieher. Nach scharfer Kritik aus der EU und tagelangen Massenprotesten auf den Straßen seines eigenen Landes will der ukrainische Präsident ein hochumstrittenes Antikorruptionsgesetz allem Anschein nach wieder zurücknehmen.
Das Gesetz Nummer 12414, das das ukrainische Parlament allen Warnungen zum Trotz am vergangenen Dienstag verabschiedet hatte, sah vor, zentrale Antikorruptionsbehörden des osteuropäischen Landes weitgehend der Generalstaatsanwaltschaft zu unterstellen. Damit wäre ihre Unabhängigkeit nach Ansicht vieler Experten zerstört gewesen.
Am Donnerstagabend verkündete Selenskyj dann: Als Reaktion auf die Proteste habe er nun ein neues Gesetz in die Werchowna Rada eingebracht, das alle umstrittenen Änderungen rückgängig machen solle.
Die Proteste haben die Präsidialadministration auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht.
Anna Kravtšenko, Friedrich-Naumann-Stiftung Kyjiw
„Es ist sehr wichtig, dass die Gesellschaft zu Wort kommt“, sagte der Staatschef ukrainischen Medien zufolge. „Ich respektiere ihre Meinung.“ Das Einzige, worauf er beharre, seien regelmäßige Lügendetektortests für alle Mitarbeiter mit Zugang zu Staatsgeheimnissen. So solle möglicher russischer Einfluss auf staatliche Stellen rechtzeitig aufgedeckt werden, lautet die Begründung.
Das nationale Antikorruptionsbüro der Ukraine (NABU) und die Spezialisierte Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAP), deren Arbeit durch das ursprüngliche Gesetz gefährdet gewesen wäre, zeigten sich erleichtert.
Nach der Prüfung des neuen Entwurfs sei man zu der Erkenntnis gekommen, dass dieser tatsächlich „alle Verfahrensbefugnisse und Unabhängigkeitsgarantien“ wiederherstellen werde, schrieb das NABU in einer Mitteilung.
Starke Zivilgesellschaft – auch im Krieg
Für die Tausenden Menschen, die ungeachtet der Gefahr russischer Angriffe in den vergangenen Tagen auf die Straßen von Kyjiw, Odessa, Lwiw und vielen anderen Städten geströmt sind, ist das ebenfalls eine gute Nachricht – auch wenn das neue Gesetz erst noch vom Parlament verabschiedet werden muss.
Doch eines steht schon jetzt fest: Die Ukraine erlebte die bislang einzigen Massenproteste seit Beginn des russischen Angriffskriegs. Und sie waren erfolgreich.
„Die ukrainische Zivilgesellschaft ist trotz des Krieges und des geltenden Demonstrationsverbots weiterhin sehr stark“, sagt die Politologin Anna Kravtsenko dem Tagesspiegel. „Auch die unabhängigen Medien sowie die wenigen Oppositionellen haben sofort Alarm geschlagen und so zur maximalen Aufmerksamkeit beigetragen.“
Anna Kravtšenko ist Projektleiterin Ukraine und Belarus bei der Friedrich-Naumann-Stiftung mit Sitz in Kyjiw.
Die Rücknahme des umstrittenen Gesetzes sei ganz klar ein Erfolg dieser zivilgesellschaftlichen Kräfte, meint Kravtsenko, die das Kyjiwer Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung leitet. „Die Proteste haben die Präsidialadministration mit ihrem Machtanspruch auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht und gezeigt, dass die Ukrainerinnen und Ukrainer weiterhin am demokratischen Kurs ihres Landes festhalten.“
Internationales Vertrauen beschädigt
Dennoch: Der Schaden, den Selenskyj angerichtet hat, dürfte enorm sein. Der Versuch, mitten im Krieg die Unabhängigkeit von Antikorruptionskämpfern abzuschaffen, hat sein ohnehin leidgeplagtes Land zusätzlich erschüttert.
Dass es dem Präsidenten allem Anschein nach darum ging, ihm wohlgesonnene Politiker vor Korruptionsermittlungen zu schützen, macht die Sache in den Augen vieler Beobachter nur noch schlimmer.
Manche sahen zwischenzeitlich gar die ukrainische Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Gefahr. Auch die europäische Perspektive – die Ukraine ist seit 2022 offiziell EU-Beitrittskandidatin – stand auf der Kippe, das Vertrauen internationaler Partner ist stark angeknackst. All das dürfte nicht von heute auf morgen aus der Welt zu schaffen sein.
Tausende Ukrainer protestierten in den vergangenen Tagen gegen das geplante Gesetz. Dass es nun doch nicht kommen soll, dürfte vor allem ihr Verdienst sein.
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„Das ganze Vorgehen in Causa der Antikorruptionsbehörden hat erneut demonstriert, dass die Präsidialadministration ihren Machtanspruch für unerschütterlich hielt“, sagt Anna Kravtšenko.
Die schnelle Abstimmung des Ursprungsgesetzes im Parlament und seine Unterzeichnung noch am selben Tag zeigten, dass Selenskyj wohl durchaus mit einigem Widerstand gerechnet hatte – jedoch auch hoffte, ihm mithilfe eines derartigen „Turbo-Verfahrens“ zuvorzukommen.
„Dies ist nicht gelungen, und ist zu einem der größten politischen Fehler des Präsidenten geworden“, resümiert Kravtsenko. „Das Ansehen des Präsidenten ist beschädigt, da sowohl die ukrainische Bevölkerung als auch die internationalen Partner die Bekämpfung von Korruption selbst in Kriegszeiten als eine der wichtigsten Aufgaben der ukrainischen Führung betrachten.“
Selenskyj vor einigen Wochen mit Bundeskanzler Friedrich Merz. Das volle Vertrauen internationaler Partner muss der ukrainische Präsident nun erst wieder zurückgewinnen.
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Wenn die ukrainische Regierung ihren ambitionierten Plan zum EU-Beitritt weiterverfolgen wolle, müsse sie sich nun wohl erst recht auf harte Verhandlungen einstellen, sagt die Politikwissenschaftlerin. „Denn Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung und institutionelle Unabhängigkeit sind zentrale Kapitel im Beitrittsacquis. Hier werden seitens der EU keine Ausnahmen gemacht.“
Extrem wichtig sei der Kampf gegen Machtmissbrauch und Bestechlichkeit auch im Kontext der Militärhilfe und des Wiederaufbaus. „Hier haben die internationalen Partner der Ukraine genauso ein Interesse an starken Antikorruptionsmechanismen und Institutionen“, erklärt Kravtšenko.
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Aus ukrainischer Perspektive gilt es jetzt, die Beziehungen nach Brüssel bestmöglich zu kitten. Es dürfte außerdem darum gehen, den Blick wieder stärker auf die vielen positiven Reformen der vergangenen Jahre zu lenken. Darauf, dass die Ukraine trotz allem ein demokratischer Staat ist, der finanzielle und politische Hilfe verdient hat.
Denn das ist eine weitere Grube, die Selenskyj sich durch seinen Gesetzesskandal selbst geschaufelt hat: Ermuntert von den Geschehnissen der vergangenen Tage sind die Stimmen, die die Unterstützung des von Kremlchef Wladimir Putin angegriffenen Landes grundsätzlich infrage stellen, wieder lauter geworden.