Da waren sich „The New York Times“, die „Washington Post“ und die britische Zeitung „The Guardian“ einig: Alle drei Zeitungen wählten im vergangenen Jahr die im Oktober 2024 beim US-Verlag Fantagraphics auf Englisch veröffentlichte Comicerzählung „Sunday“ des in Berlin lebenden Künstlers Olivier Schrauwen in ihre Listen der besten Graphic Novels des Jahres.
Auch in Deutschland begeistert das im April 2025 unter dem Titel „Sonntag“ beim Schweizer Verlag Edition Moderne auf Deutsch veröffentlichte Buch die Kritikerinnen und Kritiker und landete auf den Bestenlisten. Die spanische Ausgabe mit dem Titel „Domingo flamenco“ kam ebenfalls gut an, sie wurde unter anderem von der größten Tageszeitung Spaniens „El País“ als „spektakulärer Comic“ gefeiert.
Auf fast 500 Seiten zeichnet der 1977 in Brügge geborene Künstler darin minutiös einen Tag im Leben seines fiktiven, aber von realen Personen inspirierten Protagonisten nach. Meisterhaft spielt Schrauwen in seiner zuerst als Heftreihe beim Berliner Avantgarde-Verlag Colorama veröffentlichten Erzählung mit den formalen Möglichkeiten der Kunstform Comic und erweist sich ein weiteres Mal als reflektierter Erzähler. Hier gibt es eine ausführliche Rezension des Buches.
Eine Doppelseite aus dem Buch „Sonntag“ von Olivier Schrauwen.
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Jetzt könnte Schrauwen auch noch die wohl wichtigste Auszeichnung der nordamerikanischen Comic-Branche bekommen: Sein Buch wurde in drei Kategorein für die Eisner Awards nominiert. Es findet sich hier in den Kategorien Beste Graphic Novel, Beste US-Ausgabe eines ausländischen Comics und Bester Autor/Zeichner.
„Als mein amerikanischer Verleger mir mitteilte, dass das Buch nominiert worden war, war ich völlig überrascht“, sagte Schrauwen dem Tagesspiegel am Freitag vor Verkündung der Jury-Entscheidung. „Ich hatte nicht einmal daran gedacht, dass es in die engere Auswahl kommen könnte.“
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Früher war es schwieriger, solche Werke ins Rampenlicht zu rücken, aber durch die sozialen Medien sind sie viel sichtbarer und leichter zu finden geworden.
Olivier Schrauwen
Als er an dem Buch arbeitete, habe er gedacht, er würde die Grenzen dessen ausreizen, was das Publikum akzeptabel finden würde. „Aber das Buch scheint eine größere Anziehungskraft zu haben, als ich erwartet hatte.“
Die Arbeit an „Sonntag“ begann vor sechs Jahren als kleine, auf vier Hefte aufgeteilte Publikation bei Colorama, einem auf künstlerisch anspruchsvolle Arbeite spezialisierten Kleinverlag, der normalerweise wenig öffentliche Aufmerksamkeit erhält. „Für mich ist das die ideale Art, an einer Graphic Novel zu arbeiten“, sagt Schrauwen.
Es sei einerseits im Vergleich zu Projekten bei größeren Verlagen eher unauffällig, „aber die Leser können bereits verfolgen, was ich mache“. Der Arbeitsprozess bestehe darin, dass er mit seiner Verlegerin über bestimmte formale und inhaltliche Aspekte des Buches spreche, aber dabei sehr viele Freiheiten habe. „Am Ende kann ich das Buch ohne Kompromisse gestalten, was nicht der Fall wäre, wenn ich es vorher einem großen Verlag angeboten hätte.“
Eine Szene aus dem Buch „Sonntag“ von Olivier Schrauwen.
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Spiegelt der internationale Erfolg von „Sunday“ aus Sicht des Zeichners auch eine zunehmende Wertschätzung unabhängiger Avantgarde-Comics in der breiten Öffentlichkeit wider? „Ich glaube, dass auch ein ‘Mainstream-Publikum’ einen Geschmack für das Ungewöhnliche hat“, sagt Schrauwen. „Früher war es schwieriger, solche Werke ins Rampenlicht zu rücken, aber durch die sozialen Medien sind sie viel sichtbarer und leichter zu finden geworden.“ Im Allgemeinen gebe es heute eine viel vielfältigere Gruppe von Menschen, die im Comicbereich arbeiten, „sodass es Werke gibt, die unterschiedliche Vorlieben ansprechen und Verbindungen zu verschiedenen Disziplinen herstellen.“
Sollte Schrauwen eine oder mehrere Auszeichnungen bekommen, wäre es das erste Mal, dass die auch als „Comic-Oscars“ bezeichneten Ehrungen an einen in Berlin lebenden Autor und Künstler gehen.
Als erster deutscher Preisträger ist in den vergangenen Jahren bereits der Autor und Kurator Alexander Braun mit einem Eisner Award ausgezeichnet worden – und dies gleich zweimal. Zum einen bekam er 2020 die Auszeichnung in der Kategorie „Beste Neuausgabe eines historischen Comics für seine Gesamtausgabe des Zeitungscomics „Krazy Kat“. Zum anderen war er bereits 2015 für die Nausgabe des Zeitungscomic-Klassikers „Complete Little Nemo“ mit dem begehrten Preis geehrt worden.
Olivier Schrauwen: „Sonntag“, 472 S., farbig (Pantone), aus dem Englischen von Christoph Schuler, Edition Moderne, Colorama, April 2025.
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Die Preise, die in diesem Jahr zum 37. Mal vergeben werden, werden in diesem Jahr in der Nacht auf den 26. Juli auf der San Diego Comic-Con International in Kalifornien verliehen.
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Die Bekanntgabe der Gewinnerinnen und Gewinner in mehr als 30 Kategorien beginnt in San Diego am Freitagabend um 20 Uhr – also um 5 Uhr morgens deutscher Zeit. Mehr zu den Ergebnissen am Sonnabendmorgen auf den Comicseiten des Tagesspiegels.