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Europa plant Prestige-Projekt ohne Ende in der Gefahr des Verzettelns. Frankreich pflegt sein Ego, und Deutsche schanzen den Briten Arbeitsplätze zu.

Paris – „Die Wahl der Systeme ist daher ent­scheidend und wird langfristige Folgen für Europas industrielle und technologische Verteidigungsbasis haben. Es geht um Er­halt oder Abbau von Arbeitsplätzen und Kompetenzen sowie um mehr oder weniger Abhängig­keiten in Schlüsselbereichen“, schreiben Torben und Sven Arnold. Die beiden Analysten der Stiftung Wissenschaft und Politik halten Rüstungskooperationen zwischen Paris und Berlin für schwierig – selbst angesichts des Ukraine-Krieges und Wladimir Putins Expansionismus bleibt die wirtschaftliche Abgrenzung zwischen den USA, Deutschland und Frankreich virulent. Selbst an den Tomahawk-Raketen beziehungsweise am Typhon-System scheiden sich die Geister innerhalb der Nato.

Frankreich wird seinen eigenen Weg gehen. Wie das französische Magazin Forces Operations Blog berichtet hat, wollen die französischen Streitkräfte eine eigene Boden-Boden-Rakete mit einer Reichweite von mehr als 2.000 Kilometern implementieren. Demnach fehle dem französischen Arsenal eine solche Fähigkeit und könnte durch das European Long Range Strike Approach (ELSA) eingeführt werden – „eine Initiative, die im Juli 2024 gestartet wurde und kurz vor dem Eintritt in eine neue industrielle Phase steht“, wie Forces Operations schreibt.

John Healey zu Besuch bei seinem Amtskollegen Boris Pistorius – beide schreiten die Front ab.Neue Rüstungspartner: Großbritanniens Verteidigungsminister John Healey (Mitte) zu Besuch bei seinem Amtskollegen Boris Pistorius. Die beiden wollen jetzt als Alternative zur Tomahawk der USA gemeinsam eine Langstreckenwaffe bauen – die Beste der Welt oder zumindest Europas © IMAGO/Metodi PopowTomahawk ein No-Go für Frankreich: „Artillerie im Lichte des neuen strategischen Kontexts“

„Zwar ist die Stärkung der gesamten traditionellen Boden-Boden-Artilleriekette von wesentlicher Bedeutung, doch erfordert der neue strategische Kontext eine Ausweitung der Grenzen der indirekten Feuerunterstützung, indem Frankreich umfassend mit konventionellen Bodenangriffsfähigkeiten ausgestattet wird“, schreiben Matthieu Bloch und Jean-Louis Thiériot in ihrem Informationsbericht, den die französische Nationalversammlung Ende April 2025 erhalten hat. Der Bericht hatte das Thema „Artillerie im Lichte des neuen strategischen Kontexts“ behandelt.

„Viele ehrgeizige europäische Projekte sind aufgrund unüberbrückbarer technischer oder industrieller Differenzen zwischen den Teilnehmern gescheitert.“

Wie Zuzanna Gwadera aktuell berichtet, habe das französische Luft- und Raumfahrtkonsortium ArianeGroup auf der Pariser Luftfahrtschau vor einigen Wochen erstmals Modelle einer in der Entwicklung befindlichen Boden-Boden-Mittelstreckenrakete mit der Bezeichnung „Missile Balistique Terrestre (MBT)“ vorgestellt – „eine mögliche Antwort Frankreichs auf die Lücke der europäischen Langstreckenangriffsfähigkeit“, urteilt die Autorin des US-Thinktanks International Institut for Strategic Studies (IISS). Von den US-amerikanischen Tomahawks wollen die Franzosen nichts wissen – obwohl dieses System vergleichbare Fähigkeiten bietet; und verfügbar beziehungsweise erprobt ist. Deutschland will ja dort investieren, und setzt parallel zu deutsch-französischen Rüstungskooperationen auf bewährte US-Produkte.

Beispielsweise das Patriot-Luftabwehrsystem oder aktuell die Typhon-Batterien. Das Typhon-Waffensystem wird auch als „Strategic Mid-range Fires System“ (SMRF) bezeichnet – mindestens 2.000 bis 2.500 Kilometer soll die Waffe tragen, jedenfalls die Tomahawk-Raketen, beziehungsweise genauer: Tomahawk-Marschflugkörper. Die werden permanent angetrieben und fliegen knapp über dem Boden auf ihr Ziel zu; der alternativ zu verschießenden SM-6-Rakete wird eine Entfernung bis zu 500 Kilometer zugeschrieben; anders als eine Tomahawk zündet sie einmalig und fliegt dann in einer Kurve vom Boden aus wieder auf die Erdoberfläche zu. Beide Waffenarten kann die Typhon abfeuern.

Trotz Ukraine-Krieg: Europa befindet sich offenbar in einer Zwischenwelt

Europa befindet sich offenbar in einer Zwischenwelt. Die Regierungen reiben sich aktuell noch den Schlaf aus den Augen des jahrzehntelangen militärischen Wachkomas. Jetzt fällt ihnen die Zukunft mit einem Höllentempo auf die Füße – befeuert von einem Wladimir Putin, der Europa mit dem Tag des Jüngsten Gerichts droht und einem US-Präsidenten Donald Trump, der die europäischen Regierungen schulmeistert, als hätten sie ihre Hausaufgaben zu erledigen vergessen – was de facto auch zutrifft. Projekte beispielsweise wie der Zukunftspanzer Main Ground Combat System (MGCS) oder der Kampfjet von übermorgen Future Combat Air System (FCAS) sind mit heißer Nadel gestrickt.

Genau so wie der mit ESSI abgekürzte europäische „Iron Dome“ European Sky Shield Initiative, aus der sich Frankreich demonstrativ heraushält, weil die aktuelle Gemeinschaftswaffe vorrangig das Patriot-System sein soll, ergänzt durch das deutsche IRIS-System. Daneben besteht seit 2024 ELSA, der European Long-Range Strike Approach, zu dem sich inzwischen Frankreich, Deutschland, Italien und Polen mit Schweden, dem Vereinigten Königreich und den Niederlanden zusammengeschlossen haben. Wie Zuzanna Gwaderas Analyse nahelegt, besteht ein ziemliches Durch- beziehungsweise Nebeneinander verschiedener Waffen, verschiedener Ausrichtungen der Waffen und verschiedener Kooperationspartner der Systeme. Auch die jeweiligen Rüstungsproduzenten mischen mit ihren je eigenen Interessen mit.

„Darüber hinaus schlägt die französische Abteilung von MBDA die Land Cruise-Missile vor, eine bodengestützte Version der seegestützten, Unterschall-„Missile de Croisière Naval“/Naval Cruise-Missile (MdCN-NCM)“, schreibt Gwadera. Der Bodenmarschflugkörper besteche durch seinen Vorteil, schneller lieferbar zu sein, enttäusche aber mit einer Reichweite von im Vergleich zur MBT „mageren“ 1.000 Kilometern. Laut Gwadera hätten jüngste Konflikte verdeutlicht, dass Unterschall-Marschflugkörper von der Luftabwehr leichter vom Himmel zu fischen seien als ballistische System. Damit nicht genug.

Frankreich außen vor: Pistorius und Healey planen gemeinsame „Das Beste vom Besten“-Waffe

Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) hat im Mai eine Absichtserklärung unterschrieben, die unter dem Namen „Trinity-House-Abkommen“ eine Vielzahl an Maßnahmen zur Stärkung der Verteidigungskapazitäten umfasst – beispielsweise auch die Entwicklung einer Langstreckenwaffe. „Wir arbeiten gemeinsam an der schnellen Entwicklung eines neuen Systems, das noch weiter schießen und präziser zielen kann als alle aktuellen Systeme“, wie Pistorius und sein Amtskollege John Healey formuliert haben. Gwadera gibt zu bedenken, dass beide Länder eher Kompetenzen in Marschflugkörpern hätten, wie beispielsweise der deutsche Taurus beweist. Sie fragt sich auch, ob diese „Das Beste vom Besten“-Waffe Teil von ELSA würde oder Frankreich außen vor bliebe.

Das wäre dann ein weiteres Projekt, in dem der Eine mit dem Anderen nicht kann. Das kommt aber nicht von ungefähr. Das „Trinity-House-Abkommen“ liest sich wie ein Bestellschein für die britische Rüstungsindustrie zu den finanziellen Lasten Deutschlands. Healey legt als Maßstab den britischen Marschflugkörper Storm Shadow an – das neue Langstrecken-System soll besser sein. Was der deutsche Taurus beispielsweise schon längst ist.

„Die beiden Rüstungsindustrien beider Länder werden sich dadurch stärker als je zuvor annähern. Dies schließt eine langfristige Verpflichtung zur Produktion von Boxer-Panzerfahrzeugen ein und sichert so qualifizierte Arbeitsplätze in ganz Großbritannien“, steht im Abkommen – von Deutschland keine Rede – insofern ein verkapptes Zugeständnis an den britischen Nato-Partner als ein an militärischen Notwendigkeiten ausgerichtetes Vorhaben? Healey verspricht sich von der Partnerschaft Investitionen in Großbritannien.

Nato entzweit: wegen unüberbrückbarer technischer oder industrieller Differenzen zwischen Teilnehmern

„Die Vereinbarung ebnet den Weg für die Eröffnung einer neuen Fabrik für Artilleriegeschütze in Großbritannien. Dies schafft über 400 Arbeitsplätze und stärkt die britische Wirtschaft um fast eine halbe Milliarde Pfund. Mit der Eröffnung des Rheinmetall-Werks werden in Großbritannien erstmals seit zehn Jahren wieder Artilleriegeschütze aus britischem Stahl von Sheffield Forgemasters hergestellt“, so das „Trinity-House-Abkommen“. Bleibt zu fragen, warum sich Deutschland, Großbritannien und Frankreich so schwer beispielsweise auf einen gemeinsamen Panzer einigen können.

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Von einer rüstungspolitischen Union beziehungsweise von einer einheitlichen Armee ganz weit entfernt, erscheint Europa aktuell dem Politikwissenschaftler Hans Kundnani: „Trotz des Hypes um ein ‚geopolitisches Europa‘ bleibt die Rolle der EU in Sachen Verteidigung hauptsächlich eine wirtschaftliche, sei es durch die Koordinierung von Sanktionen oder durch die Förderung der Rüstungsindustrie in den EU-Mitgliedstaaten“, schreibt er für den Thinktank Friedrich-Ebert-Stiftung.

Offenbar ist die Drohung durch Wladimir Putin noch zu gering, als dass Europa sich verteidigungspolitisch als Gemeinschaft betrachtet, was Ende 2024 auch Timothy Wright in einer Analyse für das International Institute for Strategic Studies festgehalten hat: „Viele ehrgeizige europäische Projekte sind aufgrund unüberbrückbarer technischer oder industrieller Differenzen zwischen den Teilnehmern gescheitert.“