Eigentlich hatte sich Benjamin
Netanjahu
diese Woche rar gemacht. Am Sonntag meldete sich Israels Premier
wegen einer Lebensmittelvergiftung krank. Ausgerechnet in der letzten
Parlamentswoche vor der fast dreimonatigen Sommerpause, also in den letzten Tagen,
die Netanjahu ohne kompletten Koalitionsbruch überstehen muss, um sich seine
Macht bis mindestens in den Herbst zu sichern. Überlebt er diese Woche
politisch, könnte es frühestens Anfang 2026 Neuwahlen geben.

Dass die Verhandlungen über ein neues Gaza-Abkommen seit Wochen stocken? Netanjahu sitzt die Situation aus, erklärte
lediglich, wie später auch der US-Nahostgesandte Steve Witkoff, die
Bedingungen der Hamas seien nicht akzeptabel. Dabei haben Recherchen der New
York Times längst aufgedeckt, dass Netanjahu den Gazakrieg aus Machtkalkül in
die Länge zieht.
Weder den extremen Hunger in Gaza noch die Forderung nach
einem Ende der Kämpfe durch 28 westliche Staaten bedachte der israelische
Regierungschef mit einer Reaktion. Erst als Frankreichs Staatspräsident
Emmanuel Macron am Donnerstag ankündigte, Palästina als Staat anzuerkennen, meldete sich Netanjahu umgehend zu
Wort: „Ein palästinensischer Staat unter diesen Bedingungen wäre eine
Startrampe zur Vernichtung Israels“, teilte sein Büro mit.

Netanjahu dürfte wissen, dass ihm die
Ankündigung Frankreichs innenpolitisch helfen kann. Zwar ist die Mehrheit der
Israelis laut Umfragen mittlerweile für ein Kriegsende in Gaza. Aber anstatt
über die Kriegsführung und die fehlenden Reaktionen Netanjahus zu diskutieren,
lenkt Macrons Aussage die Aufmerksamkeit auf ein Thema, bei dem sich die
meisten Israelis einig sind, unabhängig davon, ob sie Netanjahu unterstützen
oder nicht. Nach dem verheerenden Hamas-Angriff am 7. Oktober vor bald zwei
Jahren ist das Misstrauen in die palästinensischen Nachbarn groß wie nie, die
meisten lehnen mehr Souveränität, geschweige denn einen eigenen
palästinensischen Staat entschieden ab. Entsprechend sorgt Macrons Ankündigung
dafür, dass Netanjahu ein paar Beliebtheitspunkte sammeln könnte und die
Opposition in die unglückliche Situation gerät, dem Premier in der Sache
zuzustimmen. So nannte etwa Oppositionsführer Jair Lapid auf der Plattform X
die Entscheidung des französischen Präsidenten einen „moralischen Fehler und diplomatischen
Schlag“ für Israel. „Die Palästinenser sollten nicht für die Angriffe vom 7.
Oktober oder ihre Unterstützung der Hamas belohnt werden.“

„Wie clever!“, ätzt der US-Botschafter

In Israel hat sich nach bald zwei
Jahren Nahostkrieg eine Routine entwickelt, auf die blinden Flecken der
internationalen Kritik hinzuweisen. Mit Blick auf Macron wird etwa auf die
Geschichte erinnert: Frankreich trägt historisch eine Mitverantwortung für die
chaotische Lage im Nahen Osten, teilte sich nach dem Ersten Weltkrieg mit
Großbritannien die Gebiete wie Kuchenstücke auf. Im Zweiten Weltkrieg
bewaffnete das Vichy-Regime Frankreichs dann heimlich jüdische
Untergrundgruppen im britischen Mandatsgebiet Palästina, die damit die
britischen Soldaten angriffen und Unruhen schürten, wie der britische
Historiker James Barr aufgedeckt hat. Diese Einmischung Frankreichs „markierte
den Höhepunkt eines
Kampfes um den Nahen Osten, der seit 30 Jahren andauerte“,
schreibt Barr dazu in seinem 2011 veröffentlichten Sachbuch A Line in the
Sand.

Macrons Ankündigung sorgt deshalb
nicht nur für Wut, sondern auch für Spott. „Wie clever! Wenn Macron einfach die
Existenz eines Staates ‚erklären‘ kann, kann Großbritannien vielleicht Frankreich zu einer
britischen Kolonie ‚erklären‘!“, schrieb etwa der US-Botschafter in Israel, Mike Huckabee,
auf X. Sachlichere Kritik kommt dagegen aus Großbritannien. „Wir wollen einen
palästinensischen Staat, wir wünschen ihn uns, und wir wollen sicherstellen,
dass die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass sich eine solche
langfristige politische Lösung entwickeln kann“, sagte Peter Kyle, Minister für Wissenschaft und Technologie, dem Nachrichtensender
Sky News am Freitag. „Aber jetzt, heute, müssen wir uns darauf konzentrieren,
was das Leid lindern kann, und es ist das extreme, ungerechtfertigte Leid in
Gaza, das für uns heute Priorität haben muss.“

Was eine Anerkennung Palästinas bewirken kann

Tatsächlich ist die dringendste
Frage, wie das Sterben in Gaza gestoppt werden kann. Ob die Anerkennung
Palästinas als Staat dabei hilft, ist fraglich: Im vergangenen Jahr erklärten
bereits Irland, Norwegen, Spanien und Slowenien, Palästina als Staat anzuerkennen.
Wie die norwegischen Politikwissenschaftler Erling Lorentzen Sogge und Jørgen Jensehaugen für das Osloer Institut
für Friedensforschung
PRIO analysierten, markiert die Anerkennung einen Strategiewechsel der
europäischen Nahostpolitik. Dies deute „darauf hin, dass sich die europäischen
Staaten zunehmend bewusstwerden, dass ihre Idee der Friedensdiplomatie – die
sich bisher darauf konzentrierte, das Bekenntnis zu einer Zweistaatenlösung zu bekräftigen, ohne viel zu
tun, um diese voranzutreiben – nur sehr wenig bewirkt hat“, schreiben die Autoren. Statt „die Aussicht auf einen eigenen Staat als
Belohnung für Verhandlungen“ gehe es nun darum, die „Anerkennung als Mittel zur
Wiederaufnahme der Verhandlungen“ einzusetzen.

Bei dem Beispiel Norwegen führte
dieser Strategiewechsel allerdings zum einen dazu, dass die Regierung in Oslo
ihre diplomatische Vertretung Al-Ram im Westjordanland 30 Jahre nach ihrer
Eröffnung schließen musste. Zuvor hatte Israel den für die palästinensischen
Gebiete zuständigen norwegischen Diplomaten den Status entzogen. Diplomatische
Vertretungen im besetzten Westjordanland
sind wesentliche Anker in der
Förderung von Bildung, Wirtschaft und der Unterstützung der Zivilgesellschaft
vor Ort.

Gaza

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Außerdem kippte Israel ein
gemeinsames Abkommen mit Norwegen über finanzielle Hilfen für die
Palästinenser. Zum Hintergrund: Laut der Osloer Friedensverhandlungen aus den
1990er-Jahren nimmt Israels Finanzministerium die Steuergelder der
Palästinensischen Autonomiebehörde PA ein, überweist diese jeden Monat weiter.
Israels Finanzministerium ist damit auf Basis der Osloer Abkommen weiterhin
eine der wichtigsten Säulen für die finanzielle Versorgung der Palästinenser.
In der aktuellen Regierung untersteht das Ministerium aber Bezalel Smotrich,
einem Vertreter der extremen Rechten und der radikalen Siedlerbewegung.

Nach dem 7. Oktober wollte Smotrich
die Gelder nur noch anteilig überweisen, um damit nicht die Hamas im
Gazastreifen indirekt zu fördern, hieß es. Das führte zum Protest der PA. Im
Januar 2024 einigte man sich darauf, die Überweisungen über Norwegen als
treuhändischen Vermittler zu regeln. Als Norwegen dann Palästina anerkannte und
Israel das Abkommen kippte, verfügte die Regierung in Oslo noch über
umgerechnet rund 420 Millionen US-Dollar palästinensischer Steuereinnahmen, die
laut israelischer Verordnung aber nicht mehr an die PA überwiesen werden
durften. Erst Anfang dieses Jahres schlichteten PA und Israel den Streit und
einigten sich darauf, ab sofort wieder ohne Vermittler zu arbeiten.

© Lea Dohle

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Das Beispiel Norwegen zeigt: Es ist unwahrscheinlich, dass Macrons Initative den Palästinensern mehr als symbolischen
Rückhalt bietet. Mahmoud Abbas, Präsident der PA, begrüßte die Entscheidung zwar als „Sieg für die
palästinensische Sache“. Diese spiegele „das
Engagement Frankreichs für die Unterstützung des palästinensischen Volkes und
seiner legitimen Rechte auf sein Land und seine Heimat wider“,
sagte Abbas am Freitag. Lob kam allerdings auch von der Hamas. In einer
Erklärung forderte die Terrororganisation, dass andere Länder in Europa
Frankreich folgen sollten.

Tatsächlich steigt der internationale Druck auf Israel merklich. Am Freitag kündigte die Armee an, wieder mehr humanitäre Hilfen nach Gaza zu lassen. Der Kurswechsel war nach Informationen der ZeitungHa’aretz aber bereits vor Macrons Ankündigung beschlossen worden.