Stuttgart gibt sich „Leitlinien für eine zukunftsgerichtete Erinnerungskultur“. Eine gute Nachricht für alle, die sich auf diesem Feld bürgerschaftlich engagieren.
Der Rahmen für die Präsentation der lange erwarteten Stuttgarter Leitlinien zur Erinnerungskultur war passend zum Thema gewählt: ein beachtlicher Kreis von stadtgeschichtlich Interessierten versammelte sich im von dem großen Stuttgart-Erinnerer Gustav Wais initiierten und vor 75 Jahren eröffneten Lapidarium in der Mörikestraße, in dem ein Teil des „Stadtgedächtnisses“ ruht – steinerne Denkmale, die auf das verweisen, was nicht zuletzt durch den Krieg in der Stadt verloren gegangen ist.
Aleida Assmann Foto: imago/dts Nachrichtenagentur
Der Rahmen war auch sonst treffend abgesteckt – durch eine Theaterperformance, die um das Thema Erinnern kreiste, und durch den Auftritt der mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichneten Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann. Sie ruft in Erinnerung, oder macht bewusst, dass der heute vielfach verwendete Begriff Erinnerungskultur vor 30 Jahre noch gar nicht existiert hat. Im Gegensatz zu Erinnerungsformen, in denen es um stolze Selbstdarstellung geht, richtet sich „die neue Erinnerungskultur gegen das Vergessen im Sinne von Verdrängen, Leugnen und Schweigen“, wie sie betonte. Diese Form der Erinnerung sei aber keineswegs negativ, wie ihr von nationalistischen und faschistischen Parteien oft unterstellt werde, betonte Assmann. Sie berge vielmehr „ein positives Potential“, das es ermögliche, zu ehemals verfolgten Gruppen wieder „konstruktive Beziehungen aufzubauen und damit Vertrauen wiederherzustellen“. Durch selbstkritisches Erinnern, das immer ein „Miteinander-Erinnern“ sei, werde eine gemeinsame Zukunft wieder möglich. Dies habe sich als „Stütze der Demokratie“ bewährt.
Würdigung von Stuttgarts großem Sohn Fritz Bauer
Ausdrücklich würdigte die Kulturwissenschaftlerin den 1903 in Stuttgart geborenen Fritz Bauer, der als hessischer Generalstaatsanwalt die Frankfurter Auschwitz-Prozesse Anfang der 1960er Jahre ins Rollen gebracht hatte. Bis dahin habe die „Schlussstrichpolitik“ Konrad Adenauers vorgeherrscht, der die Nachkriegsgesellschaft auf Schweigen eingeschworen habe. Bauer sei eine „Gegenfigur“ zu Adenauer gewesen, an die sich seine Heimatstadt auffällig spät erinnert habe. Sie lobte die laufenden Bemühungen der queeren Community in Stuttgart, Bauer zusätzliche Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Das „Schweigen in Deutschland“ endete für Assmann jedoch erst am 8. Mai 1985 mit der Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Bundestag, in der er das Kriegsende als einen „Tag der Befreiung“ bezeichnete. „Hier taucht erstmals der Begriff des Erinnerns auf“. Seitdem habe sich das Erinnern verstetigt, erklärte Assmann. Die dritte Nachkriegsgeneration sei darin sehr aktiv – auch im Sinne der jüngst verstorbenen Holcoaust-Überlebenden Margot Friedländer, wonach jeder Zeuge werden könne, wenn er das Zeugnis weitertrage.
Die Kulturwissenschaftlerin betonte dabei auch die Rolle der Stadt als „wichtigster Ort für die Erinnerungskultur“: „Hier ist Erinnern kein abstraktes Ritual, sondern findet in einem Raum statt, der gesättigt ist mit Anschauung.“ Als beispielhaft bezeichnete sie die Stiftung Geißstraße und den Lern- und Erinnerungsort Hotel Silber. Diese aus bürgerschaftlichem Engagement hervorgegangenen Erinnerungsinitiativen „stärken die Demokratie in Stuttgart und schaffen Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben“. Der Kulturamtschef spricht von einem „Meilenstein“.
Um die Stadt als Ort des Erinnerns geht es auch in den von Kulturamtschef Marc Gegenfurtner und der Leiterin der Koordinierungsstelle Erinnerungskultur, Nadine Seidu, vorgestellten „Leitlinien“, angelehnt an ein Positionspapier des Städtetags von 2023. Ausgangspunkt war der Auftrag des Gemeinderats, ein Konzept für eine „zukunftsgerichtete Erinnerungskultur“ vorzulegen. Gegenfurtner sprach von einem „Meilenstein“, der entsprechend Zeit erfordert habe.
In den neuen Leitlinien wird die Beschäftigung mit allen Aspekten der NS-Geschichte als zentral bezeichnet. Man stehe für eine nachhaltige und langfristig gedachte „multiperspektivische Erinnerungskultur“, die der Vielfalt der Stadtgesellschaft gerecht werde, Kontinuitäten sichtbar mache, offen für gesellschaftlichen Wandel sei und auch gegenwärtige diskriminierende Missstände benenne. Erinnerungsarbeit wird als „partizipativer Prozess“ verstanden, bei der Menschen, die von Unrechtserfahrungen betroffen seien, eingebunden würden. Erinnert werden soll gezielt auch an „positiv besetzte Ereignisse“ der Demokratiegeschichte.
Die Leitlinien enthalten ein Bekenntnis zum Zusammenwirken der Vielzahl von Akteuren, die sich in der Stadt mit Erinnerungskultur beschäftigen. Gegenfurtner betonte, man entscheide sich bewusst nicht zwischen Wissenschaft und Ehrenamt, sondern setze auf Kooperation und unterschiedliche Formen der Erinnerung. Die Koordinierungsstelle im Rathaus versteht sich dabei als eine „Anlaufstelle für eine vielschichtige Erinnerungskultur in Stuttgart“.
Appell, nicht an der Erinnerungskultur zu sparen
Um junge Zielgruppen zu erreichen will die Koordinierungsstelle verstärkt digitale Formate nutzen. Es sollen neue Informationsangebote, wie Stelen oder Plaketten entwickelt werden. Angedacht ist ein neues „Leitsystem, das relevante Orte, Kunstwerke und Straßen markiert“. Zudem sollen Empfehlungen für die Benennung oder Neubenennung von Straßen oder Plätzen entwickelt werden. Um Akteure der Stadtgesellschaft zu stärken, bietet die Koordinierungsstelle Zugang zu finanzieller Unterstützung an. Sie vermittelt, berät und will „ermöglichen“. Am Ende der Leitlinien findet sich der Satz: „In Zeiten haushälterischer Engpässe darf die Bedeutung der Erinnerungskultur zum Schutz demokratischer Werte nicht vergessen werden.“