Der ultrarechte Rassemblement National (RN) hat vor einem Jahr im Städtchen Saulieu die Parlamentswahl gewonnen. Die Provinz ist halt so anmutig wie nationalistisch

Sieht so Frankreichs „tiefster Seelengrund, eine Landschaft wie eine einzige, stolze Selbstvergewisserung“ aus? Naja

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Es kommt wohl nicht wieder vor, dass mich eine einzige Gott-in-Frankreich-Hymne auf die Reise schickt, die Frankfurter Allgemeine brachte aber genau das zuwege: Das burgundische Hauben-Küchen-Nest Saulieu suche ich allein deswegen auf, weil es Edelfeder Jakob Strobel y Serra als „erzfranzösische Kleinstadt“ besingt, „die sich mit ihren windschiefen Spitzgiebelhäuschen, den krummen Kopfsteinpflastergassen und der stolzen, von steinernen Greifen bewachten Basilika seit den Zeiten von Rabelais’ ,Gargantua und Pantagruel‘kaum verändert zu haben scheint“.

Der Autor erwähnt nicht, dass Marine Le Pens nationalpopulistischer Rassemblement National (RN) die Parlamentswahlen vor einem Jahr in Saulieu mit 51,4 Prozent gewann und dass nationa

nn und dass nationalistische bis rechtsextreme Listen bei den Europawahlen zuvor einen ebensolchen Stimmenanteil verzeichneten. Ich begab mich deswegen erst recht hinein in „La France profonde“. Oder – mit Strobel y Serras Worten –: ich suchte „Frankreichs tiefsten Seelengrund, eine Landschaft wie eine einzige, stolze Selbstvergewisserung“.Saulieu liegt weizengolden, aber weitgehend weinlos am Nordrand des Départements Côte-d’Or in der Bourgogne – in der ein Hektar Land schon einmal zehn Millionen Euro kosten kann – am Fuße des dunklen Waldmassivs Morvan. Die Einfahrtsstraße nach einer Aldi-Filiale erschreckt mit niedrig ärmlicher, grau verputzter Bebauung. Lastkraftwagen rattern so rücksichtslos durchs Zentrum, dass das Hôtel „Du Lion D’Or“ mit Schallisolierung wirbt.Ein erzfranzösisches Mittagsmenü und ein wenig Patina („seit 1832“) bietet immerhin das „Café Parisien“. Dort kellnert eine alte hagere Britin, die den Politfrust im vermeintlichen Paradies damit erklärt, dass „die Jungen hier nur im Sommer Arbeit finden“. Als ich in der Autowerkstatt gegenüber von Aldi darauf warte, dass eine junge Azubi meine eingesackte Seitenscheibe fixiert, sehe ich einen schönen Querschnitt der französischen Provinz vorbeiziehen. Die erotische Empfangsfrau wickelt am Telefon fünf Fälle ab, von denen ihr zwei „nie im Leben untergekommen sind“. In Frankreich rede man nicht über Politik, wimmelt sie meine Frage ab, „und in der Europäischen Union wählt jeder, was er will“.Die zahlreichen Restaurants entstanden, weil Saulieu an der Nationalstraße von Paris in Richtung Côte d’Azur liegt. Die Schlacht von Saulieu vom 16. Juni 1940 nach dem deutschen Überfall endete mit einem Rückzug der französischen Soldaten in die Restaurants – so ist es überliefert.In Saulieu ist die Altstadt zur Hälfte unbewohntStrobel y Serras „Heiligtum“, „Tempel“, „Schrein“ und „Ruhmeshalle“ heißt offiziell „Relais & Châteaux Bernard Loiseau“ und wurde vom ersten an der Pariser Börse gelisteten Haubenkoch aufgebaut, der 2003 – hoch verschuldet um seinen dritten Michelin-Stern fürchtend – Selbstmord beging. Seither hat sich die Firma Loiseau auf umliegende Gebäude ausgebreitet, die kulinarische Mittelschicht – etwa das „Hôtel de la Poste“ mit einem bereits verwildertem Innenhof – ist flöten gegangen, und Billigkneipen fürs Volk wie „Autant Ici Ou Ailleurs“ (Hier genauso wie anderswo) oder „Bar du Marché“ stehen aufgrund baldiger Pensionierung zum Kauf. Die 220 bis 250 Euro teuren Menüs bei Loiseau sind durchgetaktet wie Gottesdienste orthodoxer Calvinisten, Genaueres bringe ich aber nicht in Erfahrung, denn keiner der in Saulieu Befragten war je dort essen. Auch nicht der zugezogene Pariser Handwerker, eine mürrische Rothaut, die mit müder Hand auf dem Motorradhelm über Frankreichs „Eroberung durch den Islam“ sinniert.Wir reden auf der Terrasse des Lokals „Sowohl hier als auch woanders“, dessen Wirtin nach 40 Jahren aufhört. Käufer ließen sich keine finden, sagt die Rothaut voraus, „die Stammgäste bringen nichts ein und lassen dauernd anschreiben“. Nach der Sperrstunde um neun wird es so langweilig, dass ich Pflaster vermessen gehe. Weit kann Strobel y Serra nicht über Loiseaus „mythische Froschschenkel“ hinausgekommen sein („mit zwei Cremes aus Petersilie und Knoblauch, als konzentrische Kreise angerichtet wie ein abstraktes Gemälde“), denn das krumme Kopfsteinpflaster in den verwahrlosten Seitengässchen Pasteur, Vauban und Gambetta ist zusammengerechnet keine 70 Meter lang.Überhaupt fragt man sich, wann der betörende Feuilletonist eigentlich zum letzten Mal in Saulieu war: Die Altstadt ist zur Hälfte unbewohnt, die Place Charles de Gaulle erweist sich als Parkplatz vor einem türkischen Döner-Laden, „windschiefe Spitzgiebelhäuschen“ sind rare Ausnahmen. Der wegen Pensionierung aufgegebene Gourmet-und-Geschenke-Laden „Cadeaux Gourmand“ schockiert mit der nackten Hinteransicht eines Toilettenbeckens, und die „steinernen Greifen der Basilika“ Saint-Andoche machen zwar auf düsteren schwarz-weißen Detailfotografien schaudern, in der Realität sind die bösen obszönen romanischen Tiermonster aber klein, sitzen hoch oben an Säulen und wirken in ihrer hellen Sandfarbe – wurden sie etwa gewaschen? – geradezu putzig.Ein ehrlicheres Gesicht des „Orts, der in der unerschütterlichen Gewissheit lebt, das wahre Frankreich zu sein und den kulinarischen Gral der Grande Nation zu hüten“, sehe ich früh am Morgen, ermöglicht durch einen Blick vom Aldi-Parkplatz aus. Nette unscheinbare Arbeiterinnen und Arbeiter meist mittleren Alters strömen in Kleinwagen herbei, um in der angrenzenden Fabrik Lederwaren für französische Luxusmarken zu verarbeiten. Dieser Rest der französischen Industrie funktioniert einstweilen noch. Die Maroquinerie Thomas beschäftigt in Saulieu zweihundert Leute, achtzig von ihnen wagten es, 2016 kurz zu streiken, es waren zumeist Mitglieder der linken Gewerkschaft CGT. An der Trafostation beim Eingangstor klebt weithin sichtbar ein Plakat, auf dem zu lesen ist: „Rassemblement National – Hoffnung für Frankreich“.Europa TransitRegelmäßig berichtet Martin Leidenfrost über nahe und fernab gelegene Orte in Europa

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