Franzosen, Touristen und Influencer haben Marseille entdeckt. Und das führt in Frankreichs zweitgrößter Stadt zu Problemen. Die Alteingesessenen fühlen sich überrannt und verdrängt. Unterstützt von der Politik wollen sie sich jetzt ihre Stadt zurückholen.
Es ist im Nachhinein nicht mit genauer Sicherheit zu sagen, wann der Wandel von Marseille begonnen hat. Es mag 2001 angefangen haben, als die Schnellzugtrasse des TGV fertiggestellt war und Paris auf einen Schlag in drei Stunden Entfernung vom Mittelmeer lag.
Wenig später lief die erste Folge der TV-Serie „Plus belle la vie“ über die französischen Bildschirme, eine Art Lindenstraße mit mediterranem Flair, die Millionen Zuschauern fast zwanzig Jahre lang suggerierte, dass die Probleme zwar überall dieselben sein mögen, dass sie aber mit Sonne und einem Glas Pastis besser zu ertragen sind.
Vielleicht setzte die Wende auch erst 2013 ein, als Marseille den Titel Europäische Kulturhauptstadt trug. Oder fand der Gesichtswechsel doch erst viel später statt? War am Ende womöglich die Pandemie der eigentliche Auslöser, als nach wochenlangem Lockdown es ganz Paris hinunter in den Süden zog, zu Sonne, Meer, Sorglosigkeit – und das Homeoffice in die Strandbar verlegt wurde?
Fest steht: Marseille ist überlaufen. Es hat an vielen Stellen sein Gesicht verändert. Mit 870.000 Einwohnern ist die Stadt die zweitgrößte Frankreichs, aber die einzige Großstadt, die ihre sozial schwache Bevölkerung noch nicht aus dem Zentrum verdrängt hat. Doch die Immobilienpreise sind explodiert, in manchen Bezirken haben sie sich in zehn Jahren verdoppelt, die Mieten sind mitgezogen. Neue Populationen verdrängen die alten.
Nicht die ganze Stadt hat sich verändert, natürlich nicht. Nicht die Problemviertel im Norden sind betroffen, nicht die Hochhaussiedlung La Castellane, wo der Fußballer Zinédine Zidane aufgewachsen ist, der berühmteste Sohn von Marseille. Aber die pittoresken Bezirke hat es erwischt, alles, was nah am Meer liegt: Endoume, das Viertel Le Panier, selbst Noailles, wo man die Häuser so hat verfallen lassen, dass 2018 in der Rue d’Aubagne zwei zusammenstürzten und acht Menschen unter sich begruben.
Fest steht auch, dass es als Erstes Le Panier traf, das älteste und lange Zeit ärmste Viertel von Marseille, gelegen auf einem Hügel gleich neben dem Hafen, jahrzehntelang gemieden, weil dreckig und gefährlich, eine Hochburg der Gauner und Ganoven, heute das Herz des Massentourismus von Marseille.
Bouba Khazri kann den Wandel bezeugen. Der 66-Jährige steht vor seinem kleinen Lebensmittelladen in der Rue de Lorette, hoch oben im Panier. Die Passanten, die vorbeikommen, grüßen ihn. Ein altes Ehepaar sagt zum Enkel „Schau, da ist dein Freund Bouba“. Nur die Menschen, die Rollkoffer hinter sich herziehen, gehen grußlos vorbei, die Augen versenkt in ihr Smartphone, das sie zu ihrem Airbnb lenkt, begleitet vom lauten Rattern der Räder, eine traurige Erkennungsmelodie.
„Das geht den ganzen Tag so“, kommentiert Khazri, während er damit beschäftigt ist, ein Mosaik zu legen. Er hat den oberen Teil der Straße verschönt, an der Fassade seines Tante-Emma-Ladens thront ein Pfau. Le Panier sei wie ein Dorf gewesen, jeder kannte jeden, erzählt Khazri. Von diesen Zeiten zeugt eines seiner Mosaike: „Hier fehlt es an allem, aber uns fehlt nichts.“ Ein paar Meter weiter hängen Airbnb-Schlüsselboxen an einem Fenstergitter.
Auf 15.000 beziffert die Stadtverwaltung die Zahl der Wohnungen, die für Kurzzeitmiete in der südfranzösischen Hafenstadt angeboten werden. „Das ist in absoluten Zahlen nicht viel für eine Stadt wie Marseille, deren Fläche zweieinhalbmal größer als Paris ist“, sagt Patrick Amico, stellvertretender Bürgermeister von Marseille, zuständig für Wohnungspolitik. „Unser Problem ist die Konzentration auf wenige Bezirke, allen voran auf den Panier, wo zehn Prozent der Wohnungen nur an Touristen vermietet werden.“
Die Stadtverwaltung ließ das lange laufen. Inzwischen gelten strenge Regeln. Im Herbst müssen sich zum ersten Mal vier Eigentümer mit 33 Wohnungen vor Gericht verantworten. Ihnen droht eine Strafe bis zu 3,3 Millionen Euro.
Im Oktober vergangenen Jahres hat Bürgermeister Amico zusammen mit seiner Kollegin Sophie Cammard, Bürgermeisterin der Zentrumsbezirke, 80 Airbnb-Schlüsselboxen mit einem Trennschleifer im Panier entfernt. Im Juni haben sie die Aktion medienwirksam im alten Hafen wiederholt. Aber reicht das?
„Marseille ist keine Stadt für Touristen. Es gibt nichts zu sehen. Seine Schönheit lässt sich nicht fotografieren“, schrieb Krimiautor Jean-Claude Izzo in seiner Marseille-Trilogie. Das war in den Neunzigerjahren. Inzwischen ist Marseille Instagram-Super-Star. Rooftop-Terrassen, der ehemalige Tuba-Tauchclub, der heute ein Boutique-Hotel ist, Fischbuden am Meer, überall Aperol Spritz, die Kulisse könnte schöner kaum sein.
Die Romane beginnen jetzt so: „Auf den Höhen von Marseille sind die trendigen Bars und die Bio-Bäckereien so schnell hochgeschossen wie ein Herpesausbruch.“ Es ist der erste Satz von Hadrien Bels Marseille-Roman „Cinq dans tes yeux“, in dem viel von „les Venants“ die Rede ist, den Zugezogenen. Man nennt sie hier auch die „Neo-Marseillais“. Es sind junge Leute mit kreativen Berufen, die Marseille entdeckt haben, als das Homeoffice Normalität wurde.
Der Blick aus der 16. Etage des einzigen Hochhauses von Endoume, einem alten Fischer- und Arbeiterbezirk, fällt auf die Dächer, auf den winzigen Hafen im Vallon des Auffes, den junge Leute abends zur Open-Air-Bar machen. Er fällt auf das Meer, die Frioul-Inseln, das Château d’If, jene Festung, die König Franz I. erbaut hat.
Es ist das Homeoffice von Éric, der mit seiner Familie nach der Pandemie nach Marseille gezogen ist und zugibt, dass der Blick so atemberaubend ist, dass es ihm mitunter schwerfällt, sich zu konzentrieren. Inzwischen ist auch die alte Nachbarin, die ins Heim kam, durch ein junges Paar aus Paris ersetzt worden. Wohnungen mit diesem Blick kosten inzwischen mindestens 7000 Euro pro Quadratmeter. Weitere tausend pro Quadratmeter muss man in die Renovierung stecken. „Preise, fast wie in Paris“, sagt Eric, der seinen Nachnamen nicht nennen will.
„Es ist, als habe eine ganze Generation entdeckt, dass es eine Großstadt am Meer gibt“, sagt Laurent Couture, Urbanist bei der Städtebauagentur des Großraums Aix-Marseille (AGAM). Aber der Eindruck ist subjektiv. Zwischen 2015 und 2022 ist die Zuwanderungsrate von 2,8 auf 3,1 Prozent der Gesamtbevölkerung gestiegen. Die Zugereisten aus Paris machen gerade 0,3 Prozent aus. „Ein Tropfen im Meer angesichts der Größe der Stadt“, relativiert Couture. Aber empfunden als Welle, wo sie sich konzentrieren.
„Man muss beide Phänomene voneinander trennen, die Gentrifizierung und den Massentourismus“, mahnt Victor Collet, Autor des Buches „Von der Bruchbude zum Airbnb“, in dem er beschreibt, wie absichtlich vernachlässigte Gebäude, die 2018 zu der Katastrophe der Rue d’Aubagne führten, notdürftig renoviert heute als Touristenquartiere dienen. „Airbnb hat die Miethaie ersetzt“, konstatiert Collet. Viele Wohnungen befänden sich in Bezirken wie Noailles oder Belsunce, „total zentral“, nah am Hafen, „aber so herunterkommen, so verfallen, dass diese Leute das zwei Tage lang aushalten, aber nie dort wohnen wollten“.
Wie in Berlin vor dem Mauerfall
Marseille hat viele Gesichter. Mit seinen Couscous-Restaurants und Gewürzläden der Rue d’Aubagne könnte man sich in Afrika wähnen. In der Belle de Mai sieht es aus wie in Berlin vor dem Mauerfall. Und auch wenn auf einem der vorgelagerten Hügel in 13 Meter hohen Lettern MARSEILLE steht, eine Werbeaktion für die gleichnamige Netflix-Serie, ist es nicht das französische Hollywood. Es ist schön und stinkend, eine Stadt voller großer Versprechen und noch größerer Widersprüche, arm, aber sexy, wie einst Berlin.
Voller Widersprüche ist Marseille, aber auch voller Widerstand. Der Karneval von La Plaine hat sich vor zwei Jahren in eine bunte Protestaktion gegen Airbnb verwandelt. Gleichzeitig zieht das alternative Straßenfestival genau die Touristen an, die billig übernachten wollen. Die Stadt ist laut, die Luft verschmutzt. „Marseille schwitzt, stinkt und wird vom Wind durchgeblasen“, schreibt Esther Teillard, eine junge Schriftstellerin, die ein neues Phänomen beschreibt: den Exodus der Neo-Marseillais.
Marseille sei mediterran: „zutiefst enttäuschend, veränderungsresistent, unempfindlich für den guten Geschmack“. Teillard erzählt von teilweise „traumatischen Erfahrungen“ der Zugezogenen, die den falschen Akzent haben, die falschen Klamotten tragen und von den Einheimischen diskriminiert werden. Die ersten seien desillusioniert, heißt es, die Umzugskisten schon gepackt.
Martina Meister berichtet im Auftrag von WELT seit 2015 als freie Korrespondentin in Paris über die französische Politik.