Zu Beginn des Romans der südkoreanischen Literaturnobelpreisträgerin Han Kang steht ein Albtraum. Ihre Erzählerin Gyeongha träumt von einem Massaker im südkoreanischen Gwangju, zu dem sie lange recherchiert und einen eigenen Roman geschrieben hat. Seitdem leidet sie unter posttraumatischen Belastungsstörungen und fühlt sich manchmal von Soldaten verfolgt. Sie schläft nicht gut, isst wenig, zieht sich immer mehr zurück.
Bis ihre Freundin Inseon anruft, die nach einem Unfall in eine Klinik in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul eingeliefert wurde. Sie musste ihren Papagei zurücklassen, in ihrem Haus auf der etwa 450 Kilometer entfernten Insel Jeju. Und das Tier droht zu verdursten.
Inseons Familie wurde Opfer antikommunistischer, von den USA unterstützter Massaker
So macht sich Gyeongha mit Flugzeug, Bus und schließlich zu Fuß in das entlegene Jeju auf. Der Weg zu Inseons Haus wird zu einem Überlebenskampf gegen einen Schneesturm und – einmal angekommen – taucht sie tief in die grausame Familiengeschichte ihrer Freundin ein.
„Erst im Morgengrauen findet sie, die Finger und Zehen taub, Inseons Haus. Und den toten Vogel. Und noch etwas: kistenweise Dokumente über das Abschlachten von über 30.000 vermeintlich „Roten“ in den Jahren 1948 und 1949 auf Jeju.“
Denn Inseons Familie wurde Opfer antikommunistischer Massaker, noch vor dem Ausbruch des eigentlichen Koreakrieges. Südkoreanische Militär- und Polizeikräfte, unterstützt von den USA, gingen mit brutaler Härte gegen Rebellen vor und machten auch vor Zivilisten nicht halt. Sie brannten ganze Dörfer nieder, ermordeten Frauen und Kinder. Dabei wurden tausende Leichen ins Meer gekippt, an einem Strand, der heute eine Attraktion für Touristen ist. Jahrzehntelang wurde über die Ereignisse geschwiegen, erst in den 1990er Jahren begann eine offizielle Aufarbeitung.
Von den Massakern betroffen, war auch Inseons Mutter. Ihr Ehemann entkam gerade noch dem Tod, saß jedoch viele Jahre im Gefängnis, wurde gefoltert, verschwand und starb an den Spätfolgen. Seiner Frau blieb nur, ihn zu suchen, zu recherchieren und zu warten. Sie sammelte Fotos und Zeitungsausschnitte, kontaktierte Opfervereinigungen und kam doch nie über den Verlust hinweg.
„Dann lässt sie (…) sich von Inseon – oder vielmehr ihrem Geist – die Geschichte ihrer Familie erzählen, so wie Inseon sie aus Archiven herausgearbeitet hat und was ihr ihre Mutter von ihren Besuchen von Massengräbern und Gefängnissen berichtet hat.“
Ob die eigentlich verletzte Inseon wirklich auf die Insel zurückkommt oder das nur ein Geist, ein Traum oder eine Halluzination ist, bleibt offen. Ebenso wenig woher der Papagei auf einmal wieder herkommt.
Teppich aus Traum, Wirklichkeit und Erinnerungen
Denn die Autorin Han Kang knüpft in ihrem Roman einen Teppich aus Traum, Wirklichkeit und Erinnerungen. Sie verwebt das Massaker von Jeju mit der Geschichte zweier Freundinnen, die sich gegenseitig Halt geben. Sie schreibt äußerst poetisch, doch wissen wir nie, was sich womöglich nur im Kopf der Erzählerin abspielt.
Das Komitee für den Literaturnobelpreis in Stockholm lobt genau diesen Stil, diese „intensive poetische Prosa.“ Die Autorin stelle sich „historischen Traumata“ und lege „die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens offen,“ heißt es in der Begründung der Akademie. Dabei ist Han Kang die erste Südkoreanerin, die die hohe Auszeichnung erzählt. „Unmöglicher Abschied“ ist kein leichter Stoff, aber große Literatur.
Han Kang (2024): Unmöglicher Abschied, Aufbau Verlag, 315 Seiten, 24 Euro.
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