Franziska Brantner und Felix Banaszak touren durch Deutschland. Sie wollen die Stimmung in der Bevölkerung aufnehmen und auch verstehen, was ihre Partei falsch macht. In Duisburg werden sie mit großen Probleme mit Armut und Migration konfrontiert.

Franziska Brantner und Felix Banaszak müssen irgendwo in der Nähe sein. Beide Vorsitzenden der Grünen sind am Freitagnachmittag nach Duisburg gekommen, in den Stadtteil Marxloh, der seit Jahren zu den Orten mit den bundesweit höchsten Armuts- und Migrantenquoten gehört.

Sie wollen einen Spaziergang machen, so war es angekündigt, und mit Menschen sprechen, die in der Armutsberatung und Suchtprävention tätig sind, Treffpunkt Weseler Straße, eine Einkaufsmeile mit türkischen Brautmoden- und Schmuckgeschäften, Restaurants und Cafés. Eine journalistische Begleitung der Gespräche mit den Grünen-Parteichefs sei nicht möglich, wurde vorher mitgeteilt. Man könne am Abend bei einem „Bürgeraustausch“ wenige Kilometer entfernt dabei sein.

Die beiden Parteichefs touren durch Deutschland, um zu verstehen, was die Menschen umtreibt, um Anregungen für ihre Arbeit mitzunehmen, vielleicht auch, um zu verstehen, warum die Grünen gerade einen Abschwung erleben und die AfD stärker wird. Es soll ein Realitätscheck sein. Am Donnerstag waren sie in Heidelberg, der schmucken Universitätsstadt in Baden-Württemberg, Brantners Heimatregion.

Banaszak kommt hingegen aus Duisburg, dieser alten Industriestadt im Ruhrgebiet, mitten in Nordrhein-Westfalen. Marxloh liegt in seinem Wahlkreis 115. Dort kamen die Grünen bei der Bundestagswahl im Februar auf 6,58 Prozent der Zweitstimmen, minus 8,67 Prozent, die Linke erreichte 11,08 Prozent, plus 6,33 Prozent und die AfD stieg auf 24,77 Prozent, plus 16,43 Prozent. Die SPD lag vorn mit 25,31 Prozent, minus 9,82 Prozent. Sozialdemokrat Mahmout Özdemir schaffte so eben den Wiedereinzug in den Bundestag. Man könnte also meinen, die Grünen gehen dorthin, wo es für sie ziemlich ungemütlich ist.

Auf der Weseler Straße in Marxloh sind am Freitagnachmittag teure, blank polierte Sportlimousinen unterwegs, meist deutsche Fabrikate. Vor allem muskulöse Männer mit akkuraten Bärten und scharf anrasiertem Cut fahren sie. Auf den Bürgersteigen flanieren Frauen mit figurbetonter Kleidung und offenen Haaren an Frauen mit Kopftüchern und langen Gewändern vorbei. Familien gehen shoppen und essen. Wer die Weseler Straße verlässt, stößt in Nebenstraßen auf heruntergekommene Gebäude und vermüllte Ecken.

Schon lange fließen Fördermittel aus den Programmen „Soziale Stadt“ und „Sozialer Zusammenhalt“, doch die mühsam erreichte Stabilisierung ist gefährdet. Marxloh erlebte seit einigen Jahren einen starken Zuzug von Menschen aus Südosteuropa, neben den ganzen anderen Flüchtlingsbewegungen. Nun wird Marxloh eine „Arrival City“, so heißt das neueste Projekt, dass Menschen bei der Ankunft aus fremden Ländern helfen und Austausch und Integration verbessern soll.

Wenn man Passanten auf der Weseler Straße fragt, was sie den Grünen-Parteichefs sagen würden, winken viele ab. Politik interessiert sie nicht oder sie glauben nicht, dass sich etwas verbessert. Ein türkischstämmiger Mann, der mit Ehefrau und älterem Sohn unterwegs, erzählt, dass er jeden Tag um fünf Uhr aufstehe und arbeiten gehe, aber dass andere Ausländer, die nichts täten, vom Staat mehr Geld bekämen.

An der Friedrich-Engels-Straße ist ein Stand der Linke-Partei aufgebaut. „Gratis SlushEis“ steht auf einer Maschine mit eiskaltem Gebräu. Der türkischstämmige Bundestagsabgeordnete Mirze Edis hält ein Mikro, Lautsprecher übertragen seine Worte in Richtung einer Imbissbude. Der gelernte Stahlbauschlosser und aktive Betriebsrat beklagt im typischen Linke-Sound den angeblichen „Genozid an den Palästinensern“, dass mit deutschen Waffen Palästinenser getötet würden, und dass Deutschland keine Waffen mehr an Israel liefern dürfe.

Edis kennt Marxloh gut. „Ich habe heute viele getroffen, die AfD wählen, die offen darüber reden und sagen, schau dich hier mal um.“ Edis selbst sieht kein Problem mit Migration, sondern mit fehlenden Möglichkeiten zur Integration. Er verlangt mehr Unterstützung auch von Bund und Land.

Auf dem Weg zum „Bürgeraustausch“ mit den Grünen-Parteichefs in Duisburg-Ruhrort passiert man irgendwann ein monumentales, rostbraun-graues, verwinkeltes Gebilde aus Fabrikhallen, Gebäuden, mit Röhren, frei stehenden Treppenaufgängen, das wie ein düsteres Schloss aus einem Mad-Max-Film über Bäumen emporragt, Werksstandort Thyssenkrupp Steel, Stahlproduktion. Thyssen und Krupp gehören zu Duisburg, lange schon, wie lange noch, ist unklar. Der heutige Konzern hat Probleme und muss zahlreiche Stellen abbauen.

„Feierabend mit Franziska und Felix“

Brantner und Banaszak hätten ins „Damm Café“ gehen können, eine alte, voll besetzte Kneipe, direkt an der Horst-Schimanski-Gasse in Duisburg-Ruhrort, wenige Schritte von der Hafenkante entfernt. Doch die beiden Vorsitzenden der Grünen haben sich am Freitagabend für das „Immer & Edel“ entschieden, ein neues, schickes Lokal, kaum hundert Meter entfernt.

Dort sind in den hinteren beiden Räumen alle Stühle besetzt, mehr als 100 Menschen sind gekommen. Brantner und Banaszak wechseln mehrfach zwischen den Räumen, und wenn sie gerade nebenan sind, dann hört man ihre Stimmen weiter über Lautsprecher, damit die Gäste auch alles mitbekommen. Es wurde als „Bürgeraustausch“ angekündigt, beim „Feierabend mit Franziska und Felix“. Es wäre wohl nicht zu gewagt zu behaupten, dass bei diesem „Bürgeraustausch“ lauter Grüne sitzen. Sie sind sogar aus dem weiteren Umland und Nachbarstädten angereist.

In den nächsten zwei Stunden wird über einiges gesprochen, die Worte Migration und Integration fallen kein einziges Mal. Es kann sein, dass es mitgemeint ist, wenn es um soziale Fragen geht. Klimaschutz bleibt das zentrale Thema. Banaszak beklagt in dieser Hinsicht eine „unfassbare Ambitionslosigkeit“ der Bundesregierung von Friedrich Merz.

Konservative und Liberale wollten den Menschen einreden, dass die zentrale Gerechtigkeitsfrage zwischen Bürgergeld und Mindestlohn verlaufe, also dass jemand mithilfe staatlicher Leistungen gleich viel oder mehr Geld verdiene als Arbeitnehmer. Doch Banaszak und Brantner sehen das anders. Die sogenannte „soziale Infrastruktur“ müsse anders finanziert werden. Sie sprechen darüber, dass Erbschaften stärker besteuert werden müssten, die Grünen müssten auch überzeugende Konzepte vorlegen.

Ein Gast fragt nach, warum die Partei den gleichen Fehler mache wie beim Heizungsgesetz und auf Elektroautos setze. E-Autos machten keinen Sinn, weil sie zu teuer seien und man sie in den Großstädten nicht laden könne. Brantner meint, dass die Ladekapazitäten von Ort zu Ort unterschiedlich seien, das Heizungsgesetz will sie sich nicht schlechtreden lassen, aber sie pflichtet ihm bei. Grundsätzlich müsse die Ladeinfrastruktur vorhanden sein, wenn der Weg zum E-Auto gelingen solle, und die deutsche Automobilindustrie habe es versäumt, günstige E-Fahrzeuge anzubieten und müsse das nun nachholen.

Gleiches auch bei grünem Wasserstoff, wie ihn Thyssenkrupp im Sinn hat, doch auch dafür müsse die notwendige Infrastruktur mit Speicherkapazitäten vorhanden sein.

Irgendwann kommt man auf die AfD zu sprechen. Parteichefin Brantner betont, die Grünen müssten auf den Schützenfesten sein. Man dürfe „diese Orte“ nicht anderen überlassen, sondern müsse dort sein. Ein Zuhörer wirft ein, dass bei Demos, die sich gegen Veranstaltungen von Homosexuellen und anderen sexuellen Minderheiten richten, junge Menschen anwesend seien und dass diese eine gesichert rechtsradikale Partei wählten. „Was hat man als demokratische Partei verpasst, wieso hat man die Jugend verloren?“, fragt er.

Banaszak antwortet. „Lass uns mal einen Moment der Selbstkritik zulassen“, sagt er und erwähnt ein Video von AfDler Maximilian Krah bei TikTok, in dem er sage, echte Männer seien rechts und wenn man auch rechts sei, dann kriege man auch eine Freundin ab. „Wir lachen manchmal darüber“, sagt Banaszak, „aber offensichtlich funktioniert die Kommunikation, weil sie auf einer emotionalen Ebene junge Männer auf der Suche nach eigener Identität und nach ihrem Platz in der Gesellschaft abholt.“

Bisher gelinge es progressiven Kräften nicht, diesen jungen Männern ein Identitätsangebot zu machen, „weil in der Wahrnehmung vieler junger Männer progressive Politik damit einhergeht, dass da eigentlich kein Platz mehr für sie sei.“ Co-Parteichefin Brantner erwähnt eine Feministin, die geschrieben habe, es sei ein Fehler gewesen, dass immer, wenn über Männlichkeit gesprochen worden sei ein „toxisch“ davor gestanden habe. Brantner lobt zwar die Kinderbücher mit starken Mädchenfiguren. Aber es fehle ein Buch, „wo der Typ solche Muskeln hat und total anständig mit Frauen umgeht“. Vereinzelt gibt es Applaus.

Es geht noch um Nahost. Brantner, die eine Zeit lang in Israel gelebt hat, und Banaszak plädieren für eine ausgewogene Sicht etwa bei der Frage der Waffenexporte nach Israel. Sie seien davon überzeugt, so Banaszak, dass es möglich sei, „zu differenzieren zwischen Waffen, die völkerrechtswidrig eingesetzt werden, um im Gazastreifen schlimmste Kriegsverbrechen zu begehen, und anderen Waffen, die weiter geliefert werden müssen, damit Israel nicht schutzlos gegenüber Iran ausgeliefert ist.“

Nach etwas mehr als zwei Stunden endet der Austausch. Die Servicekräfte hätten auch einen Feierabend verdient, sagt Banaszak. Seine Co-Chefin Brantner macht nun Urlaub, und er setzt die Deutschlandtour fort. Im Osten Deutschlands. „Ich will auch da hingehen, wo der Applaus noch nicht auf uns wartet, sondern wo manchmal im wahrsten Sinne des Wortes die Luft brennt“, sagt Banaszak. Deutschland müsse miteinander reden – „und wir wollen mitreden.“

Kristian Frigelj berichtet für WELT über bundes- und landespolitische Themen, insbesondere aus Nordrhein-Westfalen.