Es kann ganz schön hart sein, aufmerksam andere Perspektiven anzusehen, die es nicht in die zum Teil doch sehr eindimensionale Geschichtsschreibung geschafft haben. John Akomfrah jedenfalls bringt mit seinen Film-Kunstwerken neue Impulse ins kollektive Gedächtnis. Er geht dabei bildgewaltig vor, überblendet und dramatisiert, aber ohne erhobenen Zeigefinger.
John Akomfrah (Foto: Smoking Dog Films)
Der britisch-ghanaische Künstler ist spätestens seit seiner Inszenierung im britischen Pavillon auf der Biennale von Venedig im vergangenen Jahr international bekannt. Seine Videoarbeiten nehmen viel Platz in Anspruch. Sie bestehen meistens aus drei, manchmal auch aus fünf großen Screens, über die zeitgleich filmische Ausschnitte und Bilder laufen – Archivbilder und eigens aufgenommene Aufnahmen. Sie rauschen zu einer Multiperspektive zusammen, akustisch begleitet von eindrucksvollen Sounds und Stimmen, die singen oder erzählen. Man braucht Zeit und zwischendrin vielleicht mal eine Pause, denn die Bilder sind aufwühlend.
Poetische Hommage an einen Vordenker
Im Kunstmuseum Ravensburg wird jetzt „The Unfinished Conversation“ (auf Deutsch: Das unvollendete Gespräch) gezeigt. In dieser Mehrkanalinstallation aus dem Jahr 2012 hat sich der 68-jährige Künstler mit dem britischen Kunsttheoretiker, Soziologen und Begründer der Cultural Studies, Stuart Hall, auseinandergesetzt. Hall, 1932 in Jamaika geboren, hatte ab 1952 an der Eliteuniversität Oxford studiert, sich der Neuen Linken angeschlossen und sich unter anderem mit Antikolonialismus und kultureller Identität beschäftigt. Seine Kindheit war durchdrungen von kolonialistischem Denken. Obwohl Hall England als seine Heimat verstand, hat er sich der Gesellschaft dort nie wirklich zugehörig gefühlt. Vermutlich lag es auch daran, dass seine Hautfarbe „drei Nuancen dunkler“ war als die seiner Familie.
Akomfrah widmet sich in der „unvollendeten Unterhaltung“ dem Vermächtnis Halls. Dabei stellt er über 45 Minuten dessen Privatleben, Reden und Fernsehinterviews in den Kontext historischer Ereignisse. Für Hall war Identität ein „nie abgeschlossener Prozess des Werdens“ und damit Teil eines fortlaufenden Gesprächs.
Mal gestochen scharf, mal verschwommen
Zu sehen sind: alte Aufnahmen rassistischer Polizeigewalt, getötete schwarze Menschen, Privatfotos der Hall-Familie, Tiere, die in Öl verenden, eine menschliche Geburt im Close-up, Szenen aus dem Vietnamkrieg, der Einmarsch der Russen 1956 in Ungarn, die Suezkrise, Mahalia Jackson, die tränenüberströmt einen Gospel singt, Textfragmente aus der Literatur. All das und noch viel mehr spielt sich in kurzer Abfolge oder simultan ab. Mal sind die Bilder gestochen scharf, dann wieder verschwommen. Auf Makroaufnahmen folgen Totalaufnahmen. Schönheit und Schrecken, Freude und Leid prallen immer wieder aufeinander.
Hinter den Bildströmen steckt enorm viel Recherchearbeit in Archiven. Die Komposition zu einer Mehrkanalinstallation ist aufwendig. Deshalb versteht sich John Akomfrah mittlerweile auch eher als Choreograf, denn als Künstler.
Die Zukunft gehört (…) denen, die bereit sind, sie selbst zu sein und gleichzeitig ein Stück der anderen in sich aufzunehmen.
Stuart Hall (1932-2014)
„The Unfinished Conversation“ ist eine berührende Hommage an Stuart Hall, sein undogmatisches Denken über Rassismus, Klasse und Identität. Für Ute Stuffer, die Leiterin des Kunstmuseums, sind diese Themen aktueller denn je. Die Videoarbeit lädt also dazu ein „darüber nachzudenken, wie wir uns selbst und andere sehen“, meint Stuffer.
Jede Menge Anregungen zum Nachdenken finden sich auch im sogenannten Conversation Room im Erdgeschoss des Kunstmuseums. Der Raum besteht aus Texten und Büchern, die zur weiterführenden Beschäftigung mit den Themen Herkunft, Identität, Zugehörigkeit, Rassismus und soziales Miteinander anregen – sowohl für Erwachsene als auch für Kinder und Jugendliche. Ein Glossar erklärt zentrale Begriffe, wie etwa „farbig“, „schwarz“ oder „race“. Hinzu kommt eine Wandinstallation in Blau und Weiß von Diana Ejaita, einer Künstlerin mit nigerianisch-italienischen Wurzeln. Für sie ist Identität ein „fließender Strom von Zugehörigkeiten“. Nicht ohne Grund weckt ihre Arbeit Assoziationen an Wasser, Seen, Flüsse und Bäche. Die Bibliothek ist sehr gut sortiert und lädt – bei freiem Eintritt! – zum Stöbern ein. Wie sagte Stuart Hall einmal so treffend: „Die Zukunft gehört (…) denen, die bereit sind, sie selbst zu sein und gleichzeitig ein Stück der anderen in sich aufzunehmen.“
Unter Druck im Obergeschoss
Der Expressionismus gehört zu den künstlerischen Bewegungen, für die die Druckgrafik eine wichtige Rolle spielte. Die Sammlung Selinka besitzt eine große Anzahl an Holzdrucken, Radierungen, Lithografien. Unter dem Titel „Under Pressure“ sind jetzt im Obergeschoss des Kunstmuseums ausgewählte Werke aus der Kollektion zu sehen. Die Schau umfasst 42 Arbeiten, darunter sind auch drei Holzdruckstöcke aus dem Brücke-Museum in Berlin inklusive des jeweiligen Blatts aus der hauseigenen Sammlung. Was auffällt, ist die reduzierte Formensprache, die starken Linien und die kräftigen Farben. Maserungen, Astlöcher und Unebenheiten wurden nicht entfernt, sondern bewusst in die Gestaltung mit einbezogen. Beste Beispiele dafür sind Erich Heckels „Weiße Pferde“ (1912) oder Karl Schmidt-Rottluffs „Köpfe II“ (1911).
Holzdruckstock und Blatt zu „Köpfe II“ von Karl Schmidt-Rottluff. (Foto: Wynrich Zlomke)
John Akomfrah „The Unfinished Conversation“ und „Under Pressure“ im Kunstmuseum Ravensburg dauern jeweils bis 2. November. Öffnungszeiten: Di. 14-18 Uhr, Mi.-So. 11-18 Uhr, Do. 11-19 Uhr. Mehr auf: www.kunstmuseum-ravensburg.de