Tourreporter
Kaden Groves gewinnt die 20. Etappe in Pontarlier als Solist. Dabei ist der Australier eigentlich ein Sprinter und kam als Anfahrer für Jasper Philipsen zur Tour de France. Nach dessen Ausfall musste er sich neu finden – mit Erfolg.
Rund 150 Meter hinter dem Ziel schüttelte Kaden Groves immer noch den Kopf. Das Gesicht war weitgehend hinter der großen Brille verborgen, aber trotzdem war zu erkennen, dass der Australier in Tränen ausgebrochen war – überwältigt von seiner eigenen Tat.
Groves ist ein Sprinter, ein durchaus erfolgreicher. Sieben Etappensiege bei der Vuelta à España und zwei beim Giro d’Italia hatte er schon vorzuweisen. Seit Samstag steht nun auch ein Tageserfolg bei der Tour de France in seinen Palmarès.
Doch diesen Sieg errang Groves nicht im Massensprint, sondern als Ausreißer auf einer Etappe im Mittelgebirge nach einer 16 Kilometer langen Solofahrt. „Grauenhaft“, sei das gewesen, sagte Groves hinterher. „Ich habe sehr gelitten, aber dank der Ansagen aus dem Teamfahrzeug habe ich versucht, ruhig zu bleiben.“
Der Plan, an den nicht mal der Sportliche Leiter glaubt
Etwa 1,7 Kilometer vor dem Ziel war Christoph Roodhooft, der Sportliche Leiter des Teams Alpecin-Deceuninck, mit dem Auto neben seinen Fahrer gerollt und hatte ihn aufgefordert zu genießen. Aber das sei ihm gar nicht gelungen, sagte Groves, „weil ich wegen des Lärms der Zuschauer, den Funk nicht gehört habe. Ich wusste ich habe 30, 40 Sekunden Vorsprung und bin so hart gefahren wie ich konnte. Es war ja mein erstes Mal.“
Groves war in der Tat nicht der Fahrer, auf den man als erstes gesetzt hätte an diesem Tag, der für so viele Teams die vielleicht letzte Chance auf einen Etappensieg gewesen ist. Dementsprechend dauerte es rund 90 Kilometer, bis sich eine dauerhafte Ausreißergruppe gebildet hatte.
Groves war dabei und das entsprach tatsächlich dem morgendlichen Plan des Teams. „Wir wussten mehr oder weniger, dass das in seinen Möglichkeiten liegt“, sagte Roodhooft. „Aber wenn ich ehrlich bin, habe ich nicht wirklich daran geglaubt.“ Grundsätzlich aber sei Groves durchaus mehr als nur ein Sprinter, nicht umsonst gehöre er auch bei Rennen wie dem Kopfsteinklassiker Paris-Roubaix zum Kader.
Plötzlich geht die Lücke auf
Dennoch musste alles zusammenpassen an diesem Tag. Ein Sturz rund 20 Kilometer vor dem Ziel auf regennasser Fahrbahn reduzierte die Ausreißergruppe auf ein Trio, zu dem neben Groves auch noch Jake Stewart und Frank van den Broek gehörten. Der Belgier signalisierte seinen Mitstreitern, dass er keine Führungsarbeit nehmen werde, angesichts der Sprintstärke der beiden anderen.
Kaden Groves bei der regnerischen 20. Etappe der Tour de France
„Absolut verständlich“, fand Groves das und war deshalb umso mehr überrascht, als er plötzlich eine Lücke hatte. „Ich bin eigentlich nur meine Führung gefahren und als ich mich umgeguckt habe, hatte ich 50 oder 100 Meter und dann bin ich so hart gefahren wie ich konnte.“
Rollenwechsel im laufenden Betrieb
Groves gehört mit seinem Erfolg nun zur Gruppe jener Fahrer, die in allen drei großen Landesrundfahrten eine Etappe gewonnen haben. Und auch wenn der 26-Jährige in Pontarlier erklärte, dass sei durchaus ein Karriereziel von ihm gewesen, so war das sicher nicht das Vorhaben, mit dem er in diese Tour gestartet war.
Vorgesehen war er als Anfahrer für den Weltklassesprinter Jasper Philipsen, der genau drei Wochen zuvor in Lille die erste Etappe und das erste Gelbe Trikot gewonnen hatte – mit einem perfekten Leadout seines Teams und nicht zuletzt von Groves. „Für Jasper zu fahren, habe ich nicht auf die leichte Schulter genommen“, sagte er in Pontarlier. Seit Saisonbeginn habe er sich monatelang darauf vorbereitet mit der Idee im Kopf, es in Lille perfekt zu machen. „Und bis heute war es einer der Höhepunkte meiner Karriere, das Gelbe Trikot mit Jasper zu holen.“
Philipsen stürzte zwei Tage später schwer und schied mit Schlüsselbeinbruch aus. Fortan musste Groves selbst den Sprinter für Alepcin-Deceuninck geben, eine vor allem mental schwierige Umstellung wie Groves schon kurz nach Philipsens Aus zugab: „Und jetzt habe ich meine erste Etappe bei der Tour gewonnen als Solist, das ist seltsam für mich.“
Eine Tour des Auf und Ab
Für sein Team endet damit eine Tour, die himmelhochjauchzend begann und dann in ein Loch zu fallen drohte. Nach Philipsens Etappensieg, gewann Mathieu van der Poel die 2. Etappe in Boulogne sur Mer und übernahm das Gelbe Trikot von seinem Teamkollegen. Einen Tag später war Philipsen raus und auch van der Poel musste das Rennen nach dem zweiten Ruhetag mit einer Lungenentzündung verlassen.
„Das alles war nicht einfach für das Team als Ganzes“, sagte der Sportliche Leiter Christoph Roodhooft. „Aber wir haben unseren Fokus und unsere Ziele wiedergefunden. Und heute ist es passiert.“ Mit Kaden Groves, dem unwahrscheinlichsten Sieger, den es auf dieser Etappe zu erwarten gab.