Wolodymyr Selenskyj

Angezählt. Wolodymyr Selenskyj. Bild: Photowalking/ Shutterstock.com

Massenprotest gegen Schwächung der Antikorruptionsbehörden. Demonstranten missachten Ausgangssperre. Steht die Ukraine vor einem Umsturz?

Die jüngsten Massenproteste in Kiew markieren einen Wendepunkt in der ukrainischen Innenpolitik. Erstmals seit Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 gehen Tausende Ukrainer gegen ihre eigene Regierung auf die Straße. Der Auslöser: Ein umstrittenes Gesetz, das die Unabhängigkeit der Anti-Korruptionsbehörden faktisch abschafft. Für Präsident Wolodymyr Selenskyj könnte dies zum gefährlichsten Moment seiner Amtszeit werden.

Das Ende der stillen Übereinkunft

Seit über drei Jahren herrschte in der Ukraine eine Art stillschweigende Übereinkunft: Interne Kritik an der Regierung wurde zurückgestellt, um nach außen Einheit zu demonstrieren. Diese informelle Vereinbarung zwischen Regierung und Zivilgesellschaft ist nun gebrochen. Als die Werchowna Rada am 22. Juli 2025 ein Gesetz verabschiedete, das die nationalen Anti-Korruptionsbehörden Nabu und Sapo unter die direkte Kontrolle des vom Präsidenten ernannten Generalstaatsanwalts stellt, überschritten die Demonstranten eine unsichtbare rote Linie.

Die Symbolik könnte kaum brisanter sein: Veteranen mit sichtbaren Kriegsverletzungen, darunter Amputierte mit Prothesen, protestierten bis nach Mitternacht und missachteten damit sogar die militärische Ausgangssperre. Dmytro Koziatynskyi, selbst Kriegsveteran, rief die Massen mit den Worten auf die Straße: „Wir müssen eine Rückkehr in die Ära Janukowitsch verhindern.“ Der Verweis auf den 2014 gestürzten Präsidenten ist kein Zufall – er weckt Erinnerungen an den Euromaidan und die „Revolution der Würde“.

Korruption: Das verdrängte Problem

Die Korruptionsbekämpfung war vor dem russischen Angriff eines der zentralen Themen in den Beziehungen zwischen der Ukraine und der Europäischen Union. Brüssel machte unmissverständlich klar: Ohne funktionierende Anti-Korruptionsinstitutionen kein EU-Beitritt. Die Gründung von Nabu und Sapo galt als Meilenstein auf diesem Weg. Doch seit Februar 2022 wurde dieses Thema systematisch aus dem öffentlichen Diskurs verdrängt.

Diese Verdrängung hatte durchaus nachvollziehbare Gründe. Westliche Partner vermieden öffentliche Kritik an Kiew, um Russland keine Propagandamunition zu liefern. Die ukrainische Gesellschaft selbst stellte den Kampf ums Überleben über innenpolitische Auseinandersetzungen. Doch diese Strategie des Schweigens hat einen hohen Preis: In einem vom Krieg zerrütteten Staat, in dem normale Kontrollmechanismen außer Kraft gesetzt sind, breitet sich Korruption wie ein Krebsgeschwür aus.

Die Achillesferse der westlichen Unterstützung

Die aktuelle Krise offenbart ein fundamentales Dilemma der westlichen Ukraine-Politik. Seit Kriegsbeginn flossen Milliarden an Militär- und Wirtschaftshilfe nach Kiew. Allein die USA stellten über 100 Milliarden Dollar zur Verfügung, die EU weitere Dutzende Milliarden. Diese Gelder stammen aus Steuereinnahmen westlicher Bürger, die zunehmend kritische Fragen stellen: Wohin fließt das Geld wirklich? Werden die Hilfen zweckgemäß verwendet?

Die Schwächung der Anti-Korruptionsbehörden kommt zur Unzeit. In Washington, Berlin und Brüssel wächst der Rechtfertigungsdruck gegenüber den eigenen Wählern. Die hastige Reaktion westlicher Spitzenpolitiker zeigt die Nervosität: Emmanuel Macron und António Costa telefonierten persönlich mit Selenskyj, um ihn von seinem Vorhaben abzubringen. EU-Erweiterungskommissarin Marta Kos warnte eindringlich, dass unabhängige Anti-Korruptionsinstitutionen „entscheidend für den EU-Kurs der Ukraine“ seien.

Selenskyjs gefährliches Machtspiel

Die Art und Weise, wie das Gesetz durchgepeitscht wurde, offenbart autoritäre Tendenzen. Abgeordnete wurden kurzfristig nach Kiew beordert, mit dem Hinweis, „der Boss“ beobachte genau, wer sich widersetze. Die Abstimmung erfolgte mit Unterstützung ehemaliger pro-russischer Parlamentarier – eine unheilige Allianz, die Fragen aufwirft. Besonders brisant: Laut NABU-Direktor Semen Kryvonos stimmten mehrere Abgeordnete für das Gesetz, die selbst Verdächtige in laufenden Korruptionsermittlungen sind.

Der Zeitpunkt scheint kalkuliert: Selenskyj nutzte offenbar die Ablenkung durch Donald Trumps turbulente erste Tage im Amt, um innenpolitisch Fakten zu schaffen. Doch die Rechnung ging nicht auf. Die Proteste zeigen, dass die ukrainische Zivilgesellschaft wachsam bleibt. Liubov Tsybulska, eine Regierungsberaterin, brachte die Stimmung auf den Punkt: „Die Russen wollen uns töten… Aber daran gewöhnt man sich. Viel schlimmer ist es, Gefahr von denen zu spüren, die dein Land regieren.“

Kriegsmüdigkeit trifft auf Korruptionswut

Die Proteste sind Symptom einer tieferen Krise. Nach dreieinhalb Jahren Krieg ist die ukrainische Gesellschaft erschöpft. Die Mobilisierung stockt, nicht zuletzt weil bekannt ist, dass Angehörige der Elite sich dem Militärdienst entziehen und im Ausland ein komfortables Leben führen. Yehor Firsov, Abgeordneter und Drohnenkommandeur an der Front, warnt vor den Auswirkungen auf die Kampfmoral: „Ich fürchte, dass die Soldaten sich fragen werden: Wofür kämpfen wir eigentlich noch?“

Diese Kriegsmüdigkeit verbindet sich nun mit der Wut über Korruption zu einer explosiven Mischung. Die Demonstranten skandieren „Ich bin kein Trottel!“ – ein Zitat Selenskyjs aus seinen Anfangstagen als Präsident, das nun gegen ihn gewendet wird. Die Ironie ist bitter: Der Mann, der einst als Komiker die Maidan-Proteste verspottete, sieht sich nun selbst mit einem möglichen neuen Maidan konfrontiert.

Die offene Zukunft

Selenskyjs hastige Ankündigung, ein neues Gesetz vorzulegen, das die Unabhängigkeit der Anti-Korruptionsbehörden wahrt, zeigt seine Verwundbarkeit. Mit 65 Prozent Zustimmung ist er zwar nicht unpopulär, doch diese Zahlen könnten schnell erodieren. Die Geschichte lehrt, dass ukrainische Präsidenten, die das Vertrauen der Straße verlieren, selten im Amt bleiben.

Die kommenden Wochen werden zeigen, ob Selenskyj die Lehren aus der Vergangenheit gezogen hat. Wählt er den Dialog mit der Zivilgesellschaft oder setzt er auf weitere Machtkonzentration? Die Antwort wird nicht nur über seine politische Zukunft entscheiden, sondern auch über den weiteren Weg der Ukraine. Denn eines ist klar: Ein Land, das für europäische Werte und gegen russische Aggression kämpft, kann es sich nicht leisten, diese Werte im Inneren zu verraten.

Die aktuelle Krise ist mehr als eine innenpolitische Turbulenz. Sie ist ein Lackmustest für die ukrainische Demokratie unter Kriegsbedingungen. Gelingt es nicht, Korruption einzudämmen und demokratische Institutionen zu schützen, droht die Ukraine nicht nur militärisch, sondern auch moralisch zu verlieren. Für Selenskyj könnte dies tatsächlich zum eigenen Maidan werden – mit ungewissem Ausgang.