Das Kolosseum in Rom war Vorbild, als in Nürnberg ab 1935 nach dem Willen Adolf Hitlers einer der größten Monumentalbauten entstehen sollte. Doch die Kongresshalle blieb wegen des Kriegs unvollendet – ab 1939 wurde nicht mehr weitergebaut. Später wurde der Bau jahrzehntelang als Lagerraum, aber auch für Probenräume genutzt.

Vertreter der Stadt betonen seit langem, dass man Nürnberg mit dem historischen Erbe des Reichsparteitagsgeländes und der Kongresshalle nicht alleinlassen dürfe. Nun soll im Innenhof und im Bestand der Kongresshalle ein Gebäude entstehen, in das 2028 Ateliers, Studiobühnen, Ausstellungsflächen und Proberäume für Kunst und Kultur und die Interimsspielstätte des Staatstheaters einziehen. Um das zu bezahlen, wirbt die Nürnberger Kulturbürgermeisterin Julia Lehner (CSU) für die Errichtung einer nationalen Stiftung.

Sie sind in Nürnberg aufgewachsen. Welche ersten Erinnerungen an die Kongresshalle und das Reichsparteitagsgelände haben Sie?

Julia Lehner: Tatsächlich war für mich das ehemalige Reichsparteitagsgelände sehr lange eine Terra incognita (red: unbekannte Welt). Ich wusste lange nichts von der Geschichte des Geländes und dessen eigentlicher Bedeutung, weder aus Berichten und Erzählungen noch aus eigener Anschauung. Erstmals vor Ort war ich anlässlich der Bundesjugendspiele, die zu meiner Gymnasialzeit im Umfeld des Stadions stattfanden. Wir saßen auf der Zeppelintribüne und sahen den sportlichen Aktivitäten zu. Die entscheidende inhaltliche Annäherung ereignete sich während meiner Studienzeit, als an einen Kommilitonen das Thema für seine Dissertation vergeben wurde.

Mit dem riesigen Gebäude der unvollendeten Kongresshalle, die für 50.000 Besucher gebaut werden sollte, ist die Stadt Nürnberg gewissermaßen geschlagen. Wie denkt die Stadtspitze, wie sie mit der Hinterlassenschaft umgehen muss?

Bereits 2004 hat die Stadt Nürnberg eine eigene Satzung für den Umgang mit diesem gesamten Gelände beschlossen: Man will die Bauten bewahren und gleichzeitig den kommenden Generationen ermöglichen, ihren eigenen Umgang damit zu finden. Mit Blick auf Zeppelinfeld und Zeppelintribüne sind wesentliche Veränderungen auf Dauer nicht vorgesehen, hier entsteht künftig ein Lern- und Begegnungsort, der das didaktische Angebot des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände ergänzen wird.

Bei der Kongresshalle handelt es sich dagegen um einen nicht vollendeten Bau, der nie von den Nazis in Betrieb genommen wurde. Schon immer ist der Rundbau sehr pragmatisch genutzt worden. In der Nachkriegszeit unter anderem als Lager, als Parkplatz, als Ausstellungsfläche. Es gibt auch zwei kulturelle Ankerinstitutionen: Seit 1963 haben die Nürnberger Symphoniker hier ihren Sitz, seit 2001 das Dokumentationszentrum. Zuletzt war die Kongresshalle mit ihren rund 80.000 Quadratmetern Fläche weitestgehend ungenutzt.

Nach einem intensiven öffentlichen Diskurs hat der Stadtrat einen neuen, einen mutigen Ansatz vorgegeben: Die Stadt Nürnberg besetzt diesen Ort weiter mit Kunst und Kultur, schafft hier weiten Raum für Künstlerinnen und Künstler der Freien Szenen und integriert eine neue Spielstätte für das Staatstheater. Und die Menschen, die den Kulturort Kongresshalle künftig aufsuchen, werden sich automatisch mit dessen Historie auseinandersetzen müssen.

Sie sagen, Sie wollen der nächsten Generation die Handhabe geben, den eigenen Umgang mit den Hinterlassenschaften der Nazis zu finden. Ist der Ersatzbau fürs Opernhaus in der Mitte der Kongresshalle ein solcher Pfad?

Ja, die Kongresshalle wird ein einzigartiger Ort kultureller Praxis. Die Stadt Nürnberg nutzt die Möglichkeit, diesen riesigen und kaum genutzten Torso zu öffnen und für alle Menschen begehbar zu machen. Mit dem Musiktheater und der Ballettsparte des Staatstheaters, einer Vielzahl von möglichen Nutzungen durch Ateliers, durch Proberäume, durch Ausstellungsflächen und mit den Institutionen vor Ort wird hier ein Miteinander kultureller Wege in großer Vielfalt angeboten werden.

Wenn Sie den riesigen Torso des Nazibaus öffnen, wollen Sie dafür auch nationale und internationale Beachtung. Wie können Sie erreichen, dass dieser Schritt deutschlandweit im Gespräch ist?

Das Reichsparteitagsgelände ist ein nationales Erbe. Die Stadt Nürnberg trägt nicht alleine die Verantwortung für die NS-Zeit und für diese unglaublichen Brüche des 20. Jahrhunderts. Diese Kongresshallenarchitektur ist dabei baulicher Ausdruck der Herrschaftsansprüche der NS-Diktatur. Sie ist eine der größten NS-Hinterlassenschaften im Land und so auch von nationaler Bedeutung.

International steht dieser unvollendete Monumentalbau symbolisch für Deutschlands NS-Vergangenheit und gleichzeitig für den Umgang damit im Verlauf des 20. Jahrhunderts. Das besitzt eine internationale Relevanz und wir stellen fest, wenn wir im Verlauf der letzten zweieinhalb Jahre kleine Interventionen oder Präsentationen in der Kongresshalle gemacht haben, dass diese fast 50.000 Menschen dorthin geführt haben.

Zum ersten Mal hat dort eine Kooperation mit dem Deutschen Pavillon auf der Biennale de Venezia außerhalb Italiens stattgefunden. Wir haben mit Stars wie John Malkovich und Veronica Ferres eine Lesung bewusst an diesem Ort durchgeführt. Der neue amerikanische Choreograf des Staatstheaters, Richard Siegal, hätte leicht andernorts arbeiten können, aber er will hier, an diesem Ort, inszenieren.

Sie haben nun die Idee, um an Finanzen zu kommen, um diesen „maßlosen Bau“, wie Sie sagen, zu unterhalten, eine Stiftung zu gründen. Wie soll das funktionieren?

Wir streben die Gründung einer Stiftung an, an der Bund, der Freistaat Bayern und die Stadt ständig beteiligt sind, um das Vorhaben auf solide finanzielle Füße zu stellen. Die Kongresshalle ist ein emblematisches nationales Erbe mit internationaler Bedeutung – das kann keine Stadt alleine stemmen. Der Stadtrat hat sich für die Gründung einer Stiftung ausgesprochen und im neuen Koalitionsvertrag der Bundesregierung ist mit Blick auf die Kongresshalle eine sogenannte Ankerformulierung enthalten, die als Bekenntnis für ein Engagement gewertet werden kann. Nun muss man die nächsten Schritte gehen – das wächst.

Wäre alles etwas leichter, wenn man wie angestrebt 2025 Europäische Kulturhauptstadt geworden wäre?

Sicher ist: Ohne die Kulturhauptstadtbewerbung gäbe es dieses Projekt heute nicht, hier erfolgte der erste Impuls, die Kongresshalle für Kunst und Kultur weiter zu öffnen.

Noch einmal ein Blick zurück in die ersten Jahrzehnte nach dem Krieg. Wie haben Sie erlebt, wie Nürnberg wahrgenommen wurde? Hatte die Stadt noch das Image der Täter oder der Reichsparteitage?

Vielleicht darf ich eine Episode erzählen. Als Teenagerin war ich mit meiner Mutter verreist und wir kamen in einer Gastwirtschaft mit einem Ehepaar ins Gespräch, das sich zunächst nur auf Englisch unterhielt. Sie fragten uns, woher wir kämen. Als ich ganz schnell ‚Nürnberg‘, antwortete und fragte, ‚Waren Sie schon mal bei uns?‘ stupste mich meine Mutter unter dem Tisch ans Bein und versuchte, ein anderes Thema anzuschneiden. Anschließend erklärte sie: ‚Das war ein jüdisches Ehepaar und der Name Nürnberg schmerzt sie sicher immer noch.‘

Zum ersten Mal habe ich da gespürt, dass meine Heimatstadt, die ich so liebe, einen Schatten mit sich zieht. Heute darf ich dieses Thema in meinem Tun, in meinem Engagement, auf meinem beruflichen Weg benennen, und uns alle im Kollektiv daran erinnern, dass wir hier mit einer ständigen Herausforderung konfrontiert sind.

Und gibt es heute die Gefahr, dass rechtsradikale Kräfte Nürnberg instrumentalisieren?

Nürnberg bündelt, auch in der Zivilgesellschaft, ein großes Engagement gegen solche Tendenzen. Und ich nehme mir heraus, für alle zu sprechen, die sich hier einbringen: All unsere Bemühungen sind stetig darauf ausgerichtet, dies mit aller Kraft zu verhindern.