Noch bevor bei den Synchronschwimmwettkämpfen in Singapur am Freitag die letzte Medaille vergeben wurde, reiste die Mannschaft der Ukraine sehr schnell zurück in ihre Unterkunft. So richtig wurde nicht klar, ob sie sich so beeilte, weil es organisatorisch notwendig war. Oder weil die Weltmeisterinnen von 2022 diesmal nur Platz sieben im Team-Wettbewerb erreicht hatten. Oder eben doch, weil ein gewisses Team „Neutral B“ Silber hinter China errungen hatte. Wie auch immer: Das Ergebnis dürfte schmerzhaft gewesen sein für die Ukrainerinnen. Immerhin blieb ihnen die Schmach erspart, als Dritter aufschauen zu müssen auf die Zweitplatzierten – die Auswahl aus dem Land des Kriegsgegners.
Unter dem sperrigen Namen „Neutral B“ verbirgt sich bei diesen Schwimm-Weltmeisterschaften Russland, dessen Einzelsportler, wie jene aus Belarus, seit September 2023 wieder an internationalen Wettbewerben teilnehmen dürfen. Belarus versteckt sich in Singapur hinter dem Namen „Neutral A“. Bei der WM in Doha im Februar 2024 hatte Russland allerdings keinen einzigen Athleten gemeldet, Belarus immerhin fünf.
Und in Singapur? Mehr als 100 „neutrale“ Athleten sind bei der WM am Start, darunter solche wie Aleksander Malzew, der im Synchronschwimmen gleich drei Titel gewann: im Technischen Solo, im Freien Solo und im Mixed-Duett. Malzew, der goldene Repräsentant Russlands, hat sein Land im Medaillenspiegel zumindest im Synchronschwimmen fast an die Spitze geführt: Mit dreimal Gold, dreimal Silber und zweimal Bronze steht Russland dort auf Platz zwei hinter China.
Schwimmerin Köhler im Gespräch
:„Die chinesischen Bots haben mich fertiggemacht“
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SZ PlusInterview von Sebastian Winter
Der russische Sport findet längst wieder Eingang in die Weltspitze, und er beginnt, sie in diversen Sparten wieder zu dominieren. Was die Ukraine davon hält, hat Synchronschwimmerin Oleksandra Goretska auf SZ-Nachfrage klar hinterlegt, als sie am Freitag auf dem Weg zum Bus noch kurz stehen blieb: „Wir tun so, als würden wir sie nicht sehen. Wir reden nicht mit ihnen, natürlich nicht. Mental ist es schwierig, dieses Land bei den Wettkämpfen zu sehen. Ich denke, es ist nicht richtig.“
Was die sogenannten neutralen Athleten dürfen und was nicht, hat die Integritätsabteilung des Schwimm-Weltverbandes World Aquatics am 18. November 2024 vermeintlich klar geregelt. Keine Flaggen, keine Hymne, neutrale Trainingsanzüge und Equipment. Außerdem keine vertragliche Beziehung zu einer nationalen Sicherheitsbehörde oder einer militärischen beziehungsweise staatlich damit verbundenen Einrichtung; keine Unterstützung von Konflikten; Einhaltung der Anti-Doping-Regeln, die für die WM-Teilnahme von Athleten während Konfliktzeiten festgelegt sind. Des Weiteren dürfen die Russen und Belarussen zwar mit Medien sprechen, aber stets nur über Sportliches.
Unterpunkt 2.1.2. bei den Teilnahmekriterien führt die Regel ad absurdum
Aber, und dies führt die Regel ad absurdum: Unterpunkt 2.1.2. bei den Teilnahmekriterien besagt, dass „eine vertragliche Beziehung zu Sportklubs, die vom Militär und der Polizei finanziert werden“, vom Verbot ausgenommen ist. Dabei ist das russische Sportsystem seit Jahrzehnten nicht zu trennen von Polizei und Militär, es fußt in vielen Sparten geradezu auf seinen traditionsreichen Militärsportklubs. Ukraines Schwimmer Mychajlo Romantschuk, der 2024 nach den Sommerspielen von Paris zurückgetreten ist, sagte ein Jahr zuvor im SZ-Interview: „Wenn Sport unpolitisch wäre, wieso sind dann 90 Prozent der russischen Athleten Armeeangehörige, die Putins System unterstützen?“ Dieser Satz mag überspitzt formuliert gewesen sein, das Problem erfasste er genau.
Russland und Belarus durften trotz des Krieges auch in Paris neutrale Athleten zu den Olympischen Spielen schicken, ein russischer und drei belarussische Schwimmer waren dort dabei. Und World Aquatics öffnete die Tür noch ein Stück weiter, nachdem der Teilnahmebann im Herbst 2023 für Einzelsportler aufgehoben wurde. Ende 2024 ließ der Schwimm-Weltverband wieder Staffeln, Duos im Wasserspringen und gar Teams im Synchronschwimmen zu (die formal nicht als Teams gelten). Mit diesem Winkelzug umschifften die Funktionäre einen Konflikt mit den Empfehlungen des Internationalen Olympischen Komitees. Nur von den Wasserball-Wettkämpfen sind Russland und Belarus auch in Singapur ausgeschlossen. Auch weil es hier theoretisch zu Körperkontakt im Becken zwischen Kriegsgegnern kommen könnte.
Inzwischen hat sich im Wasser jedenfalls fast schon wieder eine Normalisierung eingestellt im Umgang mit Russen und Belarussen – trotz größter Zweifel daran, dass die neutalen Athleten wirklich „neutral“ sind. So sagte Wasserspringerin Lena Hentschel vor der WM: „Ich persönlich finde es aus dem sportlichen Aspekt nicht schlecht, dass die Russen jetzt wieder dabei sind, dass wir in den Dialog gehen und Sport diese verbindende Wirkung hat.“
Schwimmer Romanchuk
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Der Ukrainer Mychailo Romanchuk kämpft bei der Schwimm-WM auch gegen die Angst um seine Liebsten. Ein Gespräch über Freunde, die nicht aus Bachmut zurückkehrten, wie ihm Florian Wellbrock in Deutschland half – und Russen im Weltsport.
SZ PlusInterview von Sebastian Winter
Nur: Wie Dialog führen, wenn zeitgleich weiter Bomben und Raketen auf die gebeutelte Ukraine fallen? Goretska äußert sich in Singapur ganz im Sinne Romantschuks: „Viele Menschen sagen ja, Sport ist nicht politisch. Doch er ist vollkommen politisch, wie wir hier sehen.“ Und auch anderswo: Bei der Weltmeisterschaft im Fechten in Tiflis verweigerte die ukrainerische Goldmedaillengewinnerin Wlada Charkowa am vergangenen Mittwoch ein Foto mit einem russischen Athleten, der ebenfalls eine Medaille gewonnen hatte.
Russland wirft weiter Bomben auf die Ukraine – auch auf die Sportstätten
Der Graben im Schwimmen zieht sich nicht nur quer durchs Feld der Athleten und Trainer, sondern auch durch die Verbände. Während Russland und Belarus bei Weltcups und der WM starten dürfen, sind sie bei Europameisterschaften weiter ausgeladen. „Es ist ein schwieriges Thema“, sagte Synchronschwimm-Bundestrainerin Stephanie Marx vor dem Abflug nach Singapur: „Für den einzelnen Athleten, der jahrelang trainiert hat, freut es mich, dass er teilnehmen kann. Aus geopolitischer Sicht verstehe ich aber nicht, was sich geändert hat im Vergleich zu vor drei Jahren, als die Sanktionen beschlossen wurden.“ Marx glaubt nicht, dass es genug Stabilität gebe in der Region, um nun die Zulassung von Russen und Belarussen zu rechtfertigen. Den Begriff „neutral“ sehe sie ohnehin „sehr kritisch“.
Es wirkt so, als müsste die Ukraine in Singapur – nicht nur auf sportlicher Ebene – eine weitere Niederlage einstecken. Dabei hatte ihre Geschichte, zumindest jene ihrer Synchronschwimmerinnen, schon ihr glückliches Ende. Im Sommer 2022 wurden die kurz nach Kriegsbeginn in einer dreitägigen Odyssee nach Savona geflüchteten und dort in Obhut genommenen Frauen und Mädchen zum ersten Mal Weltmeisterinnen. Es war Balsam auf ihre Seele, in einem Sport, der jahrzehntelang vor allem von Russland dominiert wurde.
Ihr Pool in Charkiw, der damals durch die russischen Angriffe zerstört worden war, wurde inzwischen wieder aufgebaut. „Wir trainieren dort seit letztem Jahr wieder, nur 30 Kilometer von der Grenze entfernt“, sagt Oleksandra Goretska zum Abschied am Freitagabend in Singapur: „Und jeden Tag kommen die Bomben.“