Wäre sie Scheherazade, sie hätte die Kraft und die Gabe zu überleben. Die Erzählungen sprudeln geradezu aus Mounira Al Solh heraus. Geschichten von Trauer und Lebensfreude, von ihrer Familie, ihrem Land, von Krieg und Migration – aus denen sie intensive und eindrückliche Gesamtkunstwerke kreiert.

Als sie 1978 geboren wurde, tobte der Bürgerkrieg im Libanon bereits seit drei Jahren. „Wenn ich als Kind nicht einschlafen konnte, hat meine Mutter mir erlaubt, Löcher in meinen Schlafanzug zu schneiden und sie anschließend zuzunähen“, sagt Al Solh, „Das hat mich beruhigt, von den Bombardements abgelenkt und von der Angst zu sterben.“

Erinnerung an Bombennächte

Diese Erinnerungen regten sie zu der Arbeit mit gebrauchten Pyjamahosen und Nachthemden an, die hoch oben im Treppenhaus des Museums Bonnefanten hängt und deren Löcher fein umstickt sind. Öffnungen, durch die Gedanken und Träume ziehen und die zugleich an Wunden erinnern, so Al Solh. Dazu erklingen Kinderlieder auf Holländisch, Französisch und Arabisch.

Mounira Al Solh ist 1978 in Beirut geboren.

© Gert Jan van Rooij

Die Künstlerin mit der schwarzen Lockenmähne und den magentafarbenen Strähnchen unterstreicht ihre Worte mit den Händen und mit ausladenden Gesten. Diese Dynamik eignet auch ihrer Kunst, mit der sie überraschende Bögen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft spannt, zwischen Alltag und Mythos, Privatem und Politischem, zwischen Identität, Individualität und Gesellschaft. Simultan bedient sie sich Medien wie Malerei und Zeichnung, Video, Sound und Skulptur, Text, Performance und Stickerei.

Auf dem Segel des Bootes im Stil der Phönizier läuft ein Video mit poetischen Meeresszenen.

© Gert Jan van Rooij

Mounira Al Solh trägt ein Kleid in leuchtendem Pink, lacht gern und erzählt vom Humor des Vaters, von der Stärke der Mutter, ihrer Courage und ihrem Insistieren, dass die Tochter ein Studium absolvieren müsse. „Ich habe früh schon gezeichnet und dachte, wozu ein Studium! Meine Mutter hat dann einen lokalen Maler bekniet, er solle mich überzeugen, dass ich ein Diplom brauche. Also habe ich schließlich Malerei an der Libanesischen Universität studiert.“

Die Netzwerkerin

Das Studium hatte ihre Neugierde auf kunsthistorische Vorläufer geweckt, aber durch die fünfzehnjährige Kriegssituation gab es im Libanon keine Museen. Al Solh reiste mit einem Visum in die Niederlande, wo sie bis heute lebt und regelmäßig zwischen Amsterdam und Beirut pendelt. 2003 nahm sie ihr Studium an der Gerrit Rietveld Academie auf, im Anschluss folgte ein Stipendium der Rijksakademie.

Seither würdigen Museen und Galerien von Beirut bis New York, von Dubai bis Nîmes, von Berlin bis Istanbul die eindrucksvolle Künstlerin und Netzwerkerin, Teilnehmerin der Documenta 14 und im vergangenen Jahr zum zweiten Mal der Venedig Biennale.

„A Dance with her Myth“ ist nun von den Arsenale ins Bonnefanten gezogen. Der Mythos von Europa und dem Stier mit Witz und Chuzpe auf den Kopf gestellt. Auf dem Segel des Bootes im Stil der Phönizier läuft ein Video mit poetischen Meeresszenen, mit Texten und Gesängen und humorvollen Animationen, die die aus dem Libanon stammende Europa als Heldin des Widerstands und als Migrantin präsentieren.

Die Ausstellung

Mounira Al Solh, „A Land as big as her Skin“, bis 11. Januar 2026; Bonnefanten, Maastricht. Infos unter bonnefanten.nl

Passt auf keine Kuhhaut

Die Opferrolle, die dem weiblichen Geschlecht von Alters her zugeschrieben wird, findet Al Solh lächerlich. Da beginnen ihre großen braunen Augen kämpferisch zu funkeln. Eine neue Installation fokussiert eine weitere Heroin der Antike, deren vom Patriarchat geprägte Erzählungen die Künstlerin gegen den Strich bürstet: Elissa (die römische Dido), die vor ihrem Bruder vom Libanon über Zypern nach Nordafrika floh und das legendäre Karthago gründete.

Trickreich soll sie eine Kuhhaut, die die Größe des Landes für ihre neue Stadt bestimmen sollte, in lange Streifen geschnitten haben, die aneinandergereiht ihren Grund und Boden vergrößerten. In Anlehnung an den Mythos trägt die Ausstellung den Titel „Ein Land, so groß wie ihre Haut“.

Nicht nur historische Figuren sind Protagonisten, sondern ebenso Frauen aus migrantischen Communities mit ihren Alltagssorgen und Erlebnissen. „A Night Hour as long as Night“ zeigt ein grünes Zelt wie es die Qadscharen im Iran bauten, gerahmt von blauen Stoffen mit kunstvoll gestickten Ornamenten und arabischer Schrift.

30 Frauen unterschiedlicher Herkunft haben gemeinsam an der Installation gearbeitet, die 2023 anlässlich des Artes Mundi Preises in Cardiff entstanden ist. „Die Seelen der Frauen stecken darin und ihre Namen sind ein wichtiger Teil dieser kollaborativen Arbeiten. Ich will ihre Geschichten festhalten als ein lebendiges Archiv des Austauschs“, sagt Al Solh und berichtet begeistert von der Kunstfertigkeit der Afghaninnen und Drusinnen, kennt den Hintergrund jeder einzelnen Stickerin.

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Bei der Explosionskatastrophe 2020 im Hafen von Beirut wurde ihr Atelier zerstört, eine Ausstellungseröffnung im letzten Sommer musste aufgrund der israelischen Luftangriffe abgesagt werden. So beeindruckt der Elan, mit dem Al Solh derlei Erfahrungen in Werke voller Poesie und Tiefe verwandelt, mit Hintergründigkeit und Humor als Lebensquell der Resilienz.