Mario Gamba ist, wenn man so will, schon ein recht erstaunlicher Küchenchef. Der Mann mit den braunen Augen und den grauen, gelockten Haaren ist ein Autodidakt. Einer, der sich erst zum Dolmetscher für Spanisch und Französisch ausbilden lässt, ehe er seine Leidenschaft fürs Kochen entdeckt. Mitte der Siebziger Jahre ist das. Mehr oder weniger aus dem Nichts heuert er deshalb nach einem Jahr Arbeit in einem Architekturbüro in Sternelokalen an, etwa bei Drei-Sterne-Koch Alain Chapel im französischen Mionnay, der als Begründer der Nouvelle Cuisine gilt. Er arbeitet in den Achtzigern unter Heinz Winkler im Münchner Tantris, das zu dieser Zeit drei Sterne hat. 1994 eröffnet der 1955 in Bergamo geborene Gamba sein eigenes Restaurant: das „Acquarello“ im Münchner Stadtteil Bogenhausen. Seit dem Jahr 2000 sammelt er eine Auszeichnung nach der anderen: erst den Michelin-Stern, den er 24 Jahre lang behält, mehrmals wird er zum besten Italiener Deutschlands gekürt, erreicht sogar Spitzenpositionen unter den besten italienischen Restaurants der Welt. Dennoch kann er in diesem Jahr den Guide Michelin nicht mehr überzeugen. Die SZ sprach mit ihm über den Verlust seines Sterns, über mögliche Gründe und die Frage, wie er selbst damit umgeht.

SZ: Herr Gamba, wie haben Sie überhaupt vom Verlust Ihres Michelin-Sterns erfahren?

Mario Gamba: Es ist nicht so, dass man da ein Schreiben von Michelin bekommt oder gar eine Begründung, warum einem der Stern entzogen wird. Wir haben das durch Gäste und Freunde erfahren, weil wir nicht gelistet wurden.

Wie haben Sie reagiert?

Als mir das klar geworden ist, war ich schon überrascht. Ich habe mich zurückgezogen, um nachzudenken und einen Weg zu finden, unsere Qualität, die wir seit 30 Jahren haben, weiter zu halten. Haute Cuisine kann man nicht improvisieren, entweder man kann sie oder man kann sie nicht.

Was haben Sie Ihren Mitarbeitern gesagt?

Ich habe die Schuld dafür auf mich genommen, ich bin ja schließlich auch der Chef und trage die Verantwortung dafür. Und ich habe ihnen Mut gemacht, schauen Sie: Viele meiner Leute sind seit Jahren bei mir, wir sind wie eine Familie, wir verbringen mehr Zeit miteinander als mit unseren Freunden oder Familien. Da muss man miteinander reden. Und wir setzen uns auch regelmäßig zusammen und reden über alles, was ansteht, gut oder schlecht läuft. Das haben wir auch in diesem Fall gemacht, ein Glas Champagner zusammen getrunken und nach vorne geschaut.

Und was haben Sie Ihrer Meinung nach falsch gemacht?

Ich weiß es nicht. Aber ich vertraue meinem Team, weil wir uns über viele Jahre kennen. Dieses Vertrauen ist kein blinder Fleck, sondern Teil unseres Führungsverständnisses. So wachsen wir gemeinsam, weil wir gemeinsam denken. Wer täglich Leistung erbringt, darf auch mal stolpern. Wichtig ist, dass wir dabei nie unser Niveau und unseren Anspruch verlieren. Wenn einer mal nicht auf Kurs ist, sage ich das direkt.

Sind Sie milder geworden mit den Jahren?

In gewisser Weise vielleicht. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man immer wachsam sein muss, vielleicht auch mal auf Distanz gehen muss. Früher habe ich über meine Mitarbeiter konsequenter entschieden, heute wecke ich ihre Aufmerksamkeit stärker durch Stille. Dann sage ich erst nichts, und dann, in dem Meeting vor dem Abendservice: „Ich möchte, dass du dies so oder so machst, und zwar nicht nur heute, sondern immer.“ Aber natürlich ist mir auch klar, dass wir konsequent immer besser werden müssen. Ich suche da schon nach den Fehlern. Und da drängen sich auch viele Fragen auf. Es ist ja nicht so, dass ich plötzlich nicht mehr kochen könnte, dass sich an meiner grundsätzlichen Einstellung und Philosophie etwas geändert hätte.

Erklären Sie Ihre Philosophie doch mal etwas genauer.

Für mich gehört Essen zu unserer Kultur. Und Kultur ohne Tradition funktioniert nicht, das gehört zusammen. Stellen Sie sich doch einfach mal eine fünfköpfige Familie hier bei uns vor: Davon ausgehend, dass wir alle am Tag dreimal etwas essen, selbst wenn eine Mahlzeit nur eine Kleinigkeit ist, sind das bei der fünfköpfigen Familie mehr als 5000 Gerichte im Jahr. Das allein zeigt doch schon, welchen Stellenwert Essen in einer Kultur hat, die sich mehr oder weniger aussuchen kann, was sie isst. Das ist doch der Vorteil, den wir haben und auch genießen sollten. Aber um Genuss empfinden zu können, muss man sein Herz öffnen.

Sie selbst haben immer wieder darauf hingewiesen, dass Sie von einer klassischen Küche aus dem Mittelmeerraum kommen. Waren Sie vielleicht zu wenig innovativ?

Ich versuche, es so zu erklären: Ich mag keine molekulare Küche, auch wenn ich sie respektiere und akzeptiere. Aber ich komme eben aus der klassischen, modernen Traditionsküche.  Aus der Nouvelle Cuisine mit den großen Meistern, in der Garzeiten, Techniken, Saucen und vieles mehr zeitgemäßer gestaltet worden sind, nicht so wie in den Sechzigern, in denen es zum Beispiel mehr Kohlehydrate gab. Mehlschwitzen und dergleichen. Es ist mehr an die Gesundheit gedacht worden, ohne den Geschmack dabei zu verlieren. Eine wesentlich leichtere Küche ist das geworden, mit mehr Geschmackserinnerung.  Das ist das, was ich 14 Jahre lang in Drei-Sterne Häusern gelernt habe und kann. Diese ganze Erfahrung habe ich im Acquarello immer eingesetzt, von Anfang an. Das ist meine Kultur.

Der Rote Thunfisch wird aus Artenschutzgründen nur in streng limitierten Mengen gefangen. Mario Gamba bekommt ihn durch persönliche Beziehungen aus Sizilien und serviert ihn als Vorspeise mit Gurkenkügelchen und feinen Kräutern.Der Rote Thunfisch wird aus Artenschutzgründen nur in streng limitierten Mengen gefangen. Mario Gamba bekommt ihn durch persönliche Beziehungen aus Sizilien und serviert ihn als Vorspeise mit Gurkenkügelchen und feinen Kräutern. (Foto: Catherina Hess)Etwa 350 Tage im Jahr stehe er auf seinem Posten in der Küche, sagt Mario Gamba. Respekt vor dem Produkt zu haben, fordert er von sich und seinem Team.Etwa 350 Tage im Jahr stehe er auf seinem Posten in der Küche, sagt Mario Gamba. Respekt vor dem Produkt zu haben, fordert er von sich und seinem Team. (Foto: Catherina Hess/Catherina Hess)

Haben die Tester vom Michelin vielleicht mittlerweile einen anderen Geschmack? Oder legen sie andere Kriterien zugrunde als früher oder noch vor einem Jahr?

Das kann ich nicht beantworten. Ich weiß nicht einmal, ob und wann sie bei mir waren. Manchmal denke ich, dass auch die Bewertungen und Berichte im Internet eine immer größere Rolle spielen, wo man hingeht und wie das ankommt.

In diesem Punkt hätten Sie aber keinen Grund zur Klage: Ihre Bewertungen sind doch im Vergleich zu vielen anderen meist sehr gut …

Das ist aber auch das, was ich meine: Wenn wir drei Generationen ein Lächeln auf die Lippen zaubern können, dann bin ich glücklich. Und dann weiß ich auch, dass wir etwas richtig machen, mit unserer klassisch geprägten Küche, unserer klaren Linie, in der die Produkte im Fokus stehen. Oder denken Sie an die vielen Anfragen aus aller Welt, aus der Politik, die wollen, dass wir für sie kochen.  Diese Anfragen kämen ja nicht, wenn wir ihnen nicht eine schöne Erinnerung schenken würden und die Tradition, die in unsere Küche gehört, nicht akzeptiert werden würde.

Qualität hat aber auch ihren Preis. Welche ökonomischen Folgen hat der Verlust des Sterns für Ihr Restaurant?

Wir gehören noch immer zu den „Top Fifty“, wir sind dieses Jahr auf Platz 13. Außerdem gehören wir zu den 20 italienischen Restaurants außerhalb Italiens der Haute Cuisine, die 2025 vom Gambero Rosso  drei Gabeln erhalten haben. Das ist wie drei Michelin-Sterne. Und ich höre von vielen Gästen, dass wir noch dazu mit unserer Preiskalkulation moderat umgehen. Auch wenn wir die gleichen besten Produkte wie andere verwenden. Ich will nur mit ausgezeichneten Produkten arbeiten, wir sind ständig auf Recherche, wer mir das beste Geflügel, den besten Fisch, das beste Fleisch, die besten Meeresfrüchte bringen kann. Darüber entwickeln sich über die Jahre hinweg auch enge persönliche Kontakte, die dann wiederum auch quasi Tradition haben. Ich bekomme meinen Roten Thunfisch aus Sizilien beispielsweise nur, weil ich diese Beziehungen habe: Normalerweise landet so ein Tier in Japan auf den Tellern der Menschen.

Aber rechnet sich der Einsatz solcher Edelprodukte überhaupt? Die sind ja selbst für Sie als Gastronom im Einkauf teuer …

Wir kalkulieren gut, sonst könnten wir das nicht machen. Denken Sie allein an die Personalkosten, gestiegene Energiekosten. Wir versuchen, die Kosten zu decken. Ab und zu schaffen wir das, ab und zu nicht. Ich hätte mir auch gewünscht, dass dem mehr Rechnung in der Bewertung getragen wird. Dass es mehr Respekt für unsere Leistung gibt. Es ist insgesamt härter geworden, überall in der Welt. Wegen der Preisanstiege. Wir waren früher 25 Leute, die im Acquarello gearbeitet haben, heute sind wir zu sechst in der Küche und zu fünft im Service. Ich habe meine Speisekarte um 70 Prozent reduziert, um Qualität bewahren zu können. Wir kaufen täglich ein, richten uns dabei nach der Zahl der Reservierungen und kochen immer frisch. Beispielsweise bereiten wir alle zwei Tage Saucen zu, die dauern ja auch ein bis zwei Tage, bis sie fertig sind.

Haben Sie da nie ans Aufhören gedacht, zum Beispiel jetzt nach dem Verlust des Sterns?

Aufhören bedeutet nachgeben. Also nein. Ich bin etwa 350 Tage im Jahr hier, stehe 350 Tage im Jahr auf meinem Posten.  Auch wenn das viel Arbeit ist und jede Menge Zeit kostet: Mein Team und ich machen das nach wie vor mit Liebe, Hingabe und großer Freude. Und: Wir kochen auch nicht für Tester, sondern für unsere Gäste. Und die Gäste kommen nach wie vor, viele davon kennen uns seit vielen Jahren. Es ist ihnen egal, ob wir einen Stern haben oder nicht. Aufhören? Nein, das kommt nicht infrage: Das Acquarello ist ja mein Leben.