Der Kampf um unsere Aufmerksamkeit (4) –

Zwischen «Zappelphilipp» und «Superkraft»: Immer mehr Erwachsene entdecken ihr ADHS

Publiziert heute um 13:49 UhrIllustration eines Mannes mit einem transparenten Helm voller Zahnräder und Maschinen auf dem Kopf, umgeben von einem Comic-Stil Hintergrund. Der Schriftzug ’ADHS’ ist über seinen Händen platziert.

«Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen»: Lukas Geiger spricht über sein ADHS, das er erst im Erwachsenenalter entdeckt hat.

Collage: Michael Treuthardt. Fotos: Sabine Rock, Getty Images

Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.BotTalkIn Kürze:

  • Die Diagnose ADHS wird bei Erwachsenen häufiger erkannt als noch vor einigen Jahren.
  • Gemäss Schätzungen sind weltweit etwa drei Prozent aller erwachsenen Menschen betroffen.
  • Fachärzte und Beratungsstellen berichten von monatelangen Wartezeiten für ADHS-Abklärungen.

Manchmal sind es kleine Momente, die alles in Bewegung setzen und ein Leben auf den Kopf stellen. Für Lukas Geiger war es vor etwa 15 Jahren eine Kaffeepause.

«Ich war mit einer Arbeitskollegin am Kaffeetrinken, mit der ich mich sehr gut verstand. Mitten im Gespräch fragte sie mich plötzlich: «Was nimmst du eigentlich?» Ich dachte mir nicht viel und erwiderte, dass ich meinen Kaffee schwarz trinke, ohne Milch und ohne Zucker. Da ist sie rot angelaufen und verschwand. Später kam sie zu mir und entschuldigte sich, sie hätte mich eigentlich auf meine Medikamente angesprochen. Sie sagte: ‹Du hast ja sicher ADHS.›»

Wenn Geiger heute von der Szene erzählt, muss er lachen. Der 39-jährige Berner sitzt im Hemd und dunkelblauen Anzug an der Limmat in Zürich, er hat gerade einen Geschäftstermin hinter sich. Geiger ist Organisationsberater und Projektleiter. «Damals hat mich das irritiert. Ich sagte zu ihr: Ich habe sicher kein ADHS. Ich war ja nie so ein Gumpi-Kind.»

Er glaubte damals auch, die Aufmerksamkeits­defizit-/Hyperaktivitäts­störung gebe es nur bei Kindern. Dennoch begann es in seinem Kopf zu rattern. Er dachte nach, wie er als Kind häufig den Eindruck hatte, aus der Reihe zu tanzen. In der Schule abwesend war, sehr verträumt. Wie er fast vom Gymnasium flog. Und wie viel Mühe er auch im Arbeitsleben noch mit scheinbar einfachen Routinearbeiten hatte. «Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen.»

Lukas Geiger sitzt lächelnd vor grünlichem Wasser in Zürich, umgeben von Bäumen, und spricht über sein Leben mit ADHS.

Entdeckte vor rund 15 Jahren sein ADHS: Organisationsberater Lukas Geiger aus Bern.

Foto: Sabine Rock

Mit Mitte zwanzig liess er sich abklären und erhielt die Diagnose ADHS. «Es war ein totaler Gamechanger.»

Als man dachte, ADHS sei ein Erziehungsfehler

Lange gingen Ärzte und Forscherinnen davon aus, dass sich ADHS im Lauf der Pubertät «auswächst». Dass es quasi von allein verschwindet. Und dass die Ursache bei Erziehungsfehlern liegt. Heute weiss man: ADHS ist keine Kinderkrankheit. Gemäss Untersuchungen besteht das ADHS bei rund 50 Prozent der Betroffenen im Erwachsenenalter weiter. Weltweite Schätzungen gehen davon aus, dass rund drei Prozent der Erwachsenen ADHS haben. Es kommt häufiger bei Männern vor.

Das Thema ADHS polarisiert. Auf Tiktok oder Instagram ist in den letzten Jahren ein regelrechter Hype darüber entstanden. Die Nutzerinnen und Nutzer diagnostizieren sich selbst oder stilisieren die Betroffenen als kreative Köpfe mit besonderen Begabungen hoch. ADHS als Superkraft, quasi.

Aufmerksamkeit ist ein knappes Gut – und ein umkämpftes. Sie entscheidet darüber, was wir konsumieren, wie wir leben, wen wir wählen. Was bedeutet es, wenn sich die Welt gefühlt immer schneller dreht? Welche Rolle spielen das Smartphone und die sozialen Medien? In einer vierteiligen Serie gehen wir diesen Fragen auf den Grund.

Aber auch die skeptischen Stimmen werden lauter. Jene, die sagen, ADHS sei eine «Modediagnose». Ein Auswuchs des digitalen Zeitalters. Schliesslich seien wir doch alle unkonzentrierter als früher, da wir ständig durch Push-Meldungen unterbrochen würden, so die Begründung.

Fachpersonen halten entgegen, dass ADHS genetisch bedingt sei. Und es nicht mehr Betroffene gebe als früher. «ADHS wird einfach häufiger erkannt», sagt Heiner Lachenmeier. Er ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und macht in seiner Praxis in Affoltern am Albis selbst ADHS-Abklärungen. Täglich kommen mehrere Anfragen rein, zu viele, um alle zu bewältigen. Auch andere Mediziner und Beratungsstellen berichten von zunehmenden Anfragen. Es kann über ein halbes Jahr dauern, bis ein Erwachsener einen Termin kriegt.

Social Media führt nicht zu mehr ADHS-Fällen

Heiner Lachenmeier verbindet eine lange Geschichte mit ADHS. Denn er hat vor über 25 Jahren selbst die Diagnose erhalten.

«Ich habe mich damals mit Händen und Füssen dagegen gewehrt, mein ADHS abzuklären. Schliesslich sprach damals noch kaum jemand davon. Und ich war doch erfolgreich, hatte studiert und dachte, ich könne deswegen kein ADHS haben. Das war ein Fehlschluss.»

Noch heute erkennt Lachenmeier viele Vorurteile und Fehlannahmen. So glaubten etwa viele noch immer, Personen mit ADHS hätten ein Defizit der Aufmerksamkeitsfähigkeit. «Das ist falsch. ADHS bedeutet vereinfacht, dass die Zentrale zur Ansteuerung von Funktionen wie Aufmerksamkeit oder Impulskontrolle weniger aktiv ist.» Darum falle es den Betroffenen schwerer, sich auf einen Inhalt zu konzentrieren.

Ein Mann mit grauem Haar und Brille in Anzug spricht bei der Welt am Sonntag Better Future Veranstaltung.

«Ich habe mich damals mit Händen und Füssen dagegen gewehrt, mein ADHS abzuklären», sagt Heiner Lachenmeier. Heute macht er selbst Abklärungen.

Foto: PD

Auch führe die heute schnelle, digitale Welt nicht dazu, dass mehr Menschen ADHS hätten. «Vielmehr ist es so, dass es für ADHS-Betroffene noch viel schwieriger ist, mit dieser Reizüberflutung umzugehen.» Und dass ein hoher digitaler Medienkonsum die ADHS-Symptome verstärken könne.

Von daher werde auch vermutet, dass mehr Erwachsene durch die heute Mediennutzung überhaupt erst auf die Idee kämen, sie könnten ADHS haben. Auch, weil sie dort häufiger auf ADHS-Inhalte stossen würden.

ADHS-Hype untergräbt die Ernsthaftigkeit

Dass viele erst im Erwachsenenalter ihr ADHS entdecken, liegt auch daran, dass sich die Störung dann anders zeigen kann. «Man sieht es den Betroffenen äusserlich meist weniger gut an als den Kindern», sagt Frank Wieber. Er ist Professor für Public Health an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Fachgesellschaft ADHS. Er erklärt es so: Der Bewegungsdrang nehme im Alter grundsätzlich ab. «Den Erwachsenen gelingt es in der Regel auch besser, eine innere Unruhe gegen aussen zu verbergen, gerade in Situationen, in denen es unangemessen erscheint.»

Es sei auch wichtig, zu verstehen, dass es sehr unterschiedliche ADHS-Typen gebe: Manche seien extrovertiert und hyperaktiv, andere introvertiert, und wiederum andere funktionierten nur gut mit starken Strukturen.

Eine Person mit grauen Haaren hält den Kopf in den Händen, während sie an einem Schreibtisch mit zwei Laptops, Notizblöcken und Post-its sitzt. Thema ADHS bei Erwachsenen.

ADHS-Betroffenen fällt es bei vielen Impulsen schwerer, sich auf einen Inhalt zu konzentrieren.

Foto: Sven Hoppe (Keystone)

Darum sind die medizinischen Abklärungen für eine ADHS-Diagnose auch sehr aufwendig. Sie dauern Wochen und beinhalten standardisierte Tests, Interviews und Beobachtungen. Entsprechend ist Wieber auch sehr skeptisch gegenüber dem ADHS-Hype auf den sozialen Medien. Dort kursierten neben hilfreichen Informationen auch viele zu verkürzte bis falsche Kriterien, um ADHS zu erkennen. «Das kann zu falschen Einschätzungen führen und Betroffene verletzen, weil die Ernsthaftigkeit des Themas verloren geht.»

Gleichzeitig findet es Wieber wichtig und richtig, dass immer mehr Erwachsene den Verdacht auf ADHS ernst nehmen. Er rät, diesen früh genug abklären lassen – aber eben durch professionelle Fachpersonen. «ADHS-Betroffene machen viele negative Erfahrungen, etwa durch Probleme beim Organisieren von Aufgaben oder beim Pflegen von Freundschaften.» Deshalb sei das Risiko für Folgeerkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder Suchtprobleme höher. Umso wichtiger also die frühzeitige Abklärung.

Dank ADHS-Medikamenten kein «latent schlechtes Gewissen» mehr

Lukas Geiger nennt es eine «glückliche Fügung», dass er die Diagnose ADHS erhalten hat. «Mir hat es geholfen, einen Namen für das zu haben, was mir schwerfiel. Ich habe realisiert, dass ich nicht komplett falsch bin.» Aber mit der Diagnose habe eine intensive Arbeit begonnen.

Dazu gehören Besuche beim Psychiater, Verhaltenstherapie und in seinem Fall auch täglich Medikamente. Nicht alle mit ADHS wollen Medikamente nehmen. Und nicht bei allen scheint es sinnvoll. Die zunehmende Verschreibung von Ritalin bei Kindern wird beispielsweise gerade kontrovers diskutiert.

Lukas Geiger sitzt auf einer Mauer, gestikuliert beim Sprechen, im Hintergrund grüne Blätter und ein Fluss. Thema: Leben mit ADHS.

«Geräusche lenken mich extrem ab», sagt Lukas Geiger über sein Leben mit ADHS.

Foto: Sabine Rock

Geiger hingegen sagt, ihm würden die Medikamente helfen, mehr Ruhe in seinen Alltag zu bringen. Und er könne sich damit auf Situationen vorbereiten, die viel Konzentration erforderten.

«Geräusche lenken mich zum Beispiel extrem ab. Früher wäre es undenkbar gewesen, dass ich hier mit Ihnen rede, wenn hinter uns ein Auto durchfährt, ein Tram rattert und da drüben ein Vogel zwitschert. Heute kann ich mich ziemlich gut aufs Gespräch konzentrieren. Ich bin verlässlicher geworden und habe nicht mehr ein latent schlechtes Gewissen.»

Sorgen vor der Schubladisierung wegen ADHS

Auch wenn das Thema ADHS heute omnipräsent ist, ist die Stigmatisierung noch immer gross. Diese Redaktion hat mit mehreren Erwachsenen mit ADHS gesprochen, die Karrieren in einem leistungsorientierten Umfeld gemacht haben. Darunter eine Professorin einer renommierten Universität oder eine Kadermitarbeiterin eines staatlichen Unternehmens.

Sie befürworten zwar einen offenen und positiven Umgang mit ADHS im Erwachsenenalter, gleichzeitig ist es vielen unwohl, wenn sie sich öffentlich mit Namen als ADHS-Betroffene «outen», wie es mehrere formuliert haben. Die Kadermitarbeiterin etwa sagt:

«Im Arbeitskontext habe ich Strategien entwickelt, damit mein ADHS nicht auffällt. Ich leiste oft extra mehr als das Erwartete, um gewisse Unzulänglichkeiten wie Flüchtigkeitsfehler, verpasste Deadlines und vergessene To-dos auszugleichen. Offen reden darüber könnte ich erst, wenn ich darauf vertrauen kann, dass mich dann keine Schubladisierung, sondern Verständnis, Hilfestellungen und angepasste Rahmenbedingungen erwarten.»

Die Sorgen vor der Schubladisierung kennt auch Lukas Geiger. «Ich will nicht auf mein ADHS reduziert werden. Und ich will es auch nie als Entschuldigung für etwas benutzen, das ich vielleicht verbockt habe.»

Braucht ADHS einen neuen Namen?

Fragt man die Betroffenen, was sie bräuchten, um offener über ihr ADHS zu reden, heisst es meist: ein positiveres Bild davon. Dass ADHS weniger als Krankheit denn als Neurodivergenz betrachtet werde. Und es gibt auch Stimmen, die sich eine Namensänderung wünschen. Da ADHS nur schon durch die Begriffe «Defizit» und «Störung» negativ konnotiert sei.

Auch im wissenschaftlichen Diskurs wird die Namensgebung nun zum Thema. Die Schweizerische Fachgesellschaft ADHS wird an ihrer nächsten Tagung im Frühling 2026 darüber diskutieren. Frank Wieber sagt, er könne die Forderung nach einer neutralen Namensgebung verstehen. «Schauen wir ADHS nur als Störung des Gehirns an, implizieren wir damit, dass etwas kaputt ist. Und dass man dem weitgehend ausgeliefert ist.» Spreche man hingegen vermehrt von der Neurodivergenz und respektiere diese, lenke das den Fokus auf die Umgebung, die oftmals nicht optimal für ADHS-Betroffene sei, aber leicht angepasst werden könne.

Er befürworte aber aus medizinischer Perspektive den Status quo, «weil ADHS klar definiert ist und uns die entwickelten evidenzbasierten und Leitlinien-gestützten Abklärungs- und Behandlungsmethoden helfen, eine hohe Versorgungsqualität sicherzustellen». Die zusätzlichen Perspektiven wie eben ADHS als Form der Neurodivergenz würden aber wertvolle Einblicke bieten, um das Verständnis von ADHS bei Erwachsenen zu verbessern.

Lukas Geiger sagt, er finde es zwar wichtig, dass man auch über die Bezeichnung von ADHS nachdenke. Für ihn persönlich mache es aber keinen Unterschied, ob man nun von ADHS spreche oder von Neurodivergenz. «Ich wünsche mir grundsätzlich einen unverkrampfteren und sachlicheren Diskurs. Denn letztlich ist ADHS für mich keine Superpower. Aber auch kein Hindernis für ein erfüllendes und erfolgreiches Leben.»

Der Kampf um die Aufmerksamkeit und seine Folgen: Hören Sie hier unsere Podcastfolge zur Serie.

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EinloggenAlexandra Aregger schreibt für das Ressort Reportagen & Storytelling. Schwerpunkt ihrer Berichterstattung sind gesellschaftspolitische Themen.@AlexAregger

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