Zieht man Bilanz über die russische Invasion, zeigt sich, dass der Westen Kiew bisher nur halbherzig unterstützt hat. Pazifismus paarte sich mit emotionaler Distanz und Bequemlichkeit. Europa muss endlich begreifen, dass es in der Ukraine um die eigene Zukunft geht.

Der Westen muss seine bequeme Distanz zum Ukraine-Krieg ablegen und endlich Entschlossenheit zeigen. – Schäden nach einem Drohnenangriff in Kiew, 21. Juli 2025. Der Westen muss seine bequeme Distanz zum Ukraine-Krieg ablegen und endlich Entschlossenheit zeigen. – Schäden nach einem Drohnenangriff in Kiew, 21. Juli 2025.

Sergey Dolzhenko / EPA

«Sie hatten die Wahl zwischen Krieg und Schande. Sie haben die Schande gewählt und werden den Krieg bekommen», sagte Churchill an die Adresse Neville Chamberlains, der dachte, 1938 in München den Frieden gerettet und mit Hitler einen Ausgleich erzielt zu haben.

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Russland mit seinem gewalttätigen Revanchismus stellt zwar noch keine direkte Bedrohung für Westeuropa dar, aber Churchills Lektion gilt nach wie vor.

Das derzeitige Opfer der russischen Aggression, die Ukraine, ruft nicht nach Soldatenstiefeln westlicher Staaten auf seinem Boden. Was die Ukraine sucht, ist die Anerkennung – in Brüssel und London, Berlin und Paris –, dass das Böse in Europa erneut zu wuchern beginnt. Und dass die Ukraine zu Europa gehört.

Krieg und kein «Konflikt»

Seit der Annexion der Krim 2014, elf Jahre lang, ertrug Kiew die gewaltsame und brutale Willkür Moskaus, derweil Europa Gedanken und Gebete schickte und mit Schlupflöchern versehene Sanktionsgesetze verabschiedete, in der Hoffnung, der «Konflikt» würde sich von allein lösen.

Doch in der Ukraine herrscht kein «Konflikt», keine Situation, die zwischen zwei Parteien mit konkurrierenden Ansprüchen irgendwie beigelegt werden könnte. Es ist ein Krieg der Wahl, den der Kreml vom Zaun gebrochen hat – ein nach Völkerrecht krimineller Akt. Der Krieg wird nicht enden, wenn die Ukraine aufhört, sich zu verteidigen, sondern wenn Russland seine Angriffe beendet.

Europas Westen klammert sich an die Illusion, dass auf dem Kontinent noch Frieden herrscht, solange die Gewalt nur weit genug im Osten bleibt.

Zweifellos unterstützt die grosse Mehrheit der Westeuropäer die Ukraine, aber oft aus sicherer emotionaler Distanz heraus: Der Krieg ist tragisch, ja schrecklich. Und natürlich trägt Russland die Schuld. Aber es ist nicht unser Krieg. Es ist der ihre.

Das Baltikum, Polen und Skandinavien erkennen die Gefahr und sind erwacht. Die Bürger jener Länder aber, die das Glück haben, nicht an Russland zu grenzen, prangern das Unrecht und den Horror zwar an, tun aber wenig, um beides zu stoppen. Sie klammern sich an die Illusion, dass auf dem Kontinent noch Frieden herrscht, solange die Gewalt nur weit genug im Osten bleibt.

Der tief verwurzelte Pazifismus ist daran mitschuldig: als moralisches Prinzip und als bequeme Ausrede. Die Schrecken der Weltkriege hinterliessen eine dauerhafte Abneigung gegen Gewalt und den Glauben, dass Zurückhaltung den Frieden garantiere. So vermochten sich die Politiker vor der Verantwortung zu drücken – bis diese Illusion spätestens 2022 in katastrophaler Weise zerbrach. Zweifellos haben die Zurückhaltung und die Untätigkeit des Westens Moskaus Aggression mit angeheizt.

Europa hat den Krieg lange verdrängt. Die relative Ruhe und der nie da gewesene Wohlstand wurden durch die Macht der Abschreckung in Form der Nato gesichert. Nun, da sich Washington Asien zuwendet und Moskaus imperiale Ambitionen ausser Kontrolle geraten sind, ist der alte pazifistische Reflex mehr als überholt – er ist eine aktive Belastung.

Was Entschlossenheit hiesse

Die Ukraine ist keine Last für die Sicherheit Europas, sondern ein Garant, wenn nicht gar der Garant schlechthin. Durch ihren Widerstand gegen die umfassende Invasion hat die Ukraine Moskaus militärische Kapazitäten geschwächt. Noch wichtiger ist jedoch, dass sie sich entschieden hat, zu kämpfen, statt zu kapitulieren – ein Geschenk, das Europa noch nicht in vollem Umfang begriffen hat. Eine gut bewaffnete, in die Nato integrierte Ukraine würde eine glaubwürdige Abschreckung gegen künftige Aggressionen darstellen.

Europa verfügt nach wie vor über echte Handlungsoptionen. Diese umfassen die Überweisung von 300 Milliarden Dollar von eingefrorenen russischen Vermögenswerten an die Ukraine, die Verschärfung der Sanktionen und die Sperrung der Ostsee für Russlands Schattenflotte. Dazu eine nicht schrittweise, sondern umfassende Bewaffnung der Ukraine – auch mit Langstreckenwaffen für Ziele im tiefen Russland.

Entschlossenheit hiesse: Taurus-Marschflugkörper zu liefern, schnell und stark in die ukrainische Militärtechnik zu investieren und am Himmel über der Ukraine einen Schutzschirm aufzuziehen. Nicht weil Europa partout auf einen Kampf aus wäre, sondern um nicht selber kämpfen zu müssen.

Die Vorstellung, Russland stehe kurz davor, Nuklearwaffen einzusetzen, ist ein gefährlicher Kurzschluss. Das Risiko dafür ist nicht kleiner, sondern grösser geworden, weil der Westen sich auf die Erpressung des Kremls einliess. Das Risiko einer nuklearen Konfrontation ist niemals gleich null, aber ein willfähriges Nachgeben gegenüber Moskaus Drohungen macht einen dritten Weltkrieg eher wahrscheinlicher als weniger wahrscheinlich.

Warum erkennt das Europa westlich der Oder den Mut der Ukraine nicht als ein grosses Geschenk an? Die Ukrainer wehren sich gegen den russischen Angriff, während Europa endlos darüber debattiert, inwieweit es helfen kann – und wie es sich schützen kann, wenn die Ukraine fällt. Aber es darf kein Wenn geben: Westeuropa schützt sich selbst, indem es der Ukraine hilft.

Es ist an der Zeit, die bequeme Distanz abzulegen und sich vom Opfergang der Ukraine inspirieren zu lassen. Jetzt schlägt die Stunde Europas. Wenn irgendetwas Moskaus Appetit auf Gewalt zügeln kann, dann ist es eine freie Welt, die aufhört, sich für ihre Macht zu entschuldigen, und diese Macht stattdessen ausübt.

Die Ukraine ringt um einen dauerhaften Frieden. Gelingen kann dieser nur, wenn Europa endlich das Mantra ablegt, die Ukraine «so lange wie nötig» unterstützen zu wollen, und die Notwendigkeit einsieht, den Aggressor nicht ungestraft davonkommen zu lassen.

Andrew Chakhoyan ist akademischer Direktor an der Universität von Amsterdam. Der in der Ukraine geborene Amerikaner studierte an der Harvard Kennedy School und der Staatlichen Technischen Universität Donezk. – Aus dem Englischen von A. Bn.