Ein großer Haufen Erde, mit dem gespielt, in dem theatralisch gewühlt wird. Das kennt man aus der Berliner Schaubühne, wo Lars Eidinger auch im kommenden September wieder als irrer Dänenprinz Hamlet im Sandkasten buddelt. Das finnische Zirkus-Kollektiv Sisus beschwört in der Show „Memoirs of Mud“, die bei der elften Ausgabe des Berlin Circus Festival auf dem Tempelhofer Feld zu sehen ist, ebenfalls die Kraft des Drecks.

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Mit Kopfputzen aus Kartoffeln und Ingwerknollen arbeiten sich die Artistinnen Inka und Imogen in ihrer zirzensischen Agrar-Performance am Gegensatz zwischen natürlicher und künstlicher Welt ab. „Memoirs of Mud“ verbindet ein szenisches Setting mit Musik, Akrobatik und (englischer) Sprache. Shows wie diese sind es, die die Darstellungsdisziplinen verbindende Kraft des zeitgenössischen Zirkus ausmachen.

Das Festival

Das Berlin Circus Festival ist das größte unabhängige Festival für zeitgenössischen Zirkus in Deutschland. Gegründet wurde es 2015 von Josa Kölbel und Johannes Hilliger.

Vom 30. Juli bis 10. August sind auf dem Tempelhofer Feld 18 Produktionen aus ganz Europa in drei Zelten und auf einer Open-Air-Bühne zu sehen.

Weil immer mehr Compagnien die Grenzen einer traditionell ohne Sprache auskommenden Darstellungsform sprengen und in ihren Produktionen Text einsetzen, also theaterhafter werden, kommen beim Berlin Circus Festival erstmals Übertitel zum Einsatz, wie Josa Kölbel erzählt. Die großartige italienische Compagnie Fabbrica C, die ihr Stück „Bello“ zeigt, hat – wie schon 2023 – sogar einen Schauspieler dabei, der sich beim Rezitieren kleiner fragmentarischer Szenen auch schon mal von den Artisten umhertragen lässt.

Die Compagnie Knot on Hands aus den Niederlanden verschmilzt in „Meander“ Akrobatik und Tanz.

© Jona Harnischmacher

„Weltanschauungen können aber auch ohne Wörter vermittelt werden“, ist Josa Kölbel überzeugt. Beispielsweise durch „die Vorsicht im akrobatischen Umgang, die ein Hand-Hand-Duo anwendet“, also die Sorgfalt, mit der während der Nummer auf die gegenseitige Sicherheit unten am Boden wie oben in der Luft geachtet werde.

Inka und Imogen sind die finnische Compagnie Sisus. Ihr Stück „Memoirs of Mud“ setzt sich mit natürlichem und unnatürlichem Leben auseinander.

© Karine Bravo

Kölbel hat das Berlin Circus Festival 2015 zusammen mit Johannes Hilliger gegründet und mit ihm 2018 auch eine Neue-Zirkus-Schiene im Haus der Berliner Festspiele kuratiert. Seither hat sich das Festival, das diesmal in drei Zelten und auf einer Freiluftbühne stattfindet, als wichtige Plattform der Szene in Europa etabliert. Zur zehnten Ausgabe im vergangenen Jahr kamen 11.000 Besucherinnen.

Weltanschauungen können auch ohne Wörter vermittelt werden.

Josa Kölbel, Leiter des Berlin Circus Festivals

Zu sehen sind 18 europäische Produktionen. Nach dem Auftakt am Mittwoch mit einem Mix aus Performance und Party, laufen am Donnerstag zur Eröffnung dann vier Shows hintereinander. Den Auftakt bilden die beiden Belgier vom Circus Kantoen, die mit „Grasshoppers“ einen ähnlich ruralen Werkstoff nutzen wie die „Memoirs of Mud“-Frauen: Gras nämlich.

Wer bislang glaubte, dass Rollrasen nur dazu taugt, um in Nullkommanichts den Vorgarten oder ein Fußballstadion zu begrünen, lernt hier, dass Gras fliegen und sich sogar in seltsame Lebewesen verwandeln kann. Noch ein origineller Kommentar zum Verhältnis Menschen und Natur.

Moderner Tanz trifft Zirkus

Das Ensemble-Stück „Meander“ von Knot on Hands aus den Niederlanden verschreibt sich dagegen der Verschmelzung von Zirkus und Modernem Tanz. Einem abstrakten Tanz zwischen den Elementen gleich auch „How a spiral works“. In der Produktion umkreisen sich eine Tänzerin am Boden und eine Luftakrobatin, die am Seil hängt, und verhandeln Themen wie Nähe, Distanz, Widerstand und Loslassen.

Der Vertikale ist auch der Fokus „Chinesischer Mast“ gewidmet, in dem Monki Business, ein Solokünstler aus den Niederlanden, in seiner Show „60% Banana“ mit Hilfe von drei Masten und aufgespannten bunten Bändern über die Weltlage mit ihren Umfragegrafiken sinniert, in denen er trotz aller schlechten Nachrichten, optimistische Botschaften erkennt.

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Die Bedeutung des Festivals für die Fachbesucherinnen aus der Szene unterstreichen die in der Ufa-Fabrik stattfindenden Veranstaltungen: ein Panel mit Zirkus-Leuten aus Taiwan, Schweden, Katalonien und Lettland und eine Pitching-Session, für die eine Jury aus 60 Einreichungen 14 Produktionen ausgewählt hat, die sich vorstellen und nach Spielstätten und Veranstaltern suchen.

Das gebe einen guten Überblick, was für künstlerische Strömungen unterwegs seien, sagt Josa Kölbel. Und es bietet jungen Artisten aus Berlin, die an der Staatlichen Artistenschule für eher traditionelle Varieté- und Zirkus-Nummern ausgebildet werden, die Chance, das Genre Körperkunst offener zu denken.