Herr Stettes, Wirtschaftsministerin Reiche hat mit ihrer Aussage, die Deutschen müssten mehr und länger arbeiten, viel Widerspruch provoziert. Vertragen die Menschen keine unbequemen Wahrheiten mehr?
Ich fürchte, dass die meisten Menschen den Vorwurf heraushören, sie wären faul. Daher die Aufregung. Aber die kalte Diagnose ist: Im Schnitt arbeiten die Menschen relativ wenig Stunden, das hat viel damit zu tun, dass viele Beschäftigte in Teilzeit sind. Und die Deutschen gehen sehr oft vorzeitig in den Ruhestand. Zusammen ist das höchst bedenklich. Wenn es so weitergeht, werden wir angesichts des dramatischen demographischen Wandels irgendwann vor leeren Kassen stehen, weil viel zu wenige Arbeitsstunden geleistet werden.

Oliver Stettes Oliver Stettes ist Leiter des Themenclusters Arbeitswelt und Tarifpolitik beim Institut der deutschen Wirtschaft

Die Statistik lässt sich aber auch so lesen, dass viele Menschen, in der Praxis meist Frauen, wenigstens in Teilzeit arbeiten statt ganz zu Hause zu bleiben. Mehr geht oft nicht, wenn auch noch Familienpflichten warten.
Die Politik feiert groß, wenn Rekorde bei der Zahl der Erwerbstätigkeit zu verkünden sind. Teilzeitbeschäftigung hat hierzu wesentlich beigetragen, das ist anzuerkennen. Aber wir gewinnen durch diese Rekorde nur verhältnismäßig wenige Arbeitsstunden. Umgekehrt werden wir durch die Demographie sehr viele Arbeitsstunden verlieren. Die Politik muss dringend aktiv werden, da hat Frau Reiche Recht.

Wenn das System kollabiert, ist die Rente übrigens auch für diejenigen, die schon im Ruhestand sind, nicht mehr sicher.

Ökonom Oliver Stettes

Was ist zu tun?
Die größte Stellschraube ist, zu verhindern, dass so viele Menschen wie derzeit vorzeitig aus dem Berufsleben ausscheiden. Die Rente mit 63, also die abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren, gehört dringend abgeschafft. Von diesem Modell profitieren übrigens nicht besonders diejenigen in körperlich sehr harten Berufen. Die können sich nämlich meistens gar nicht leisten, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen, sondern das tun diejenigen mit besseren Gehältern. Außerdem müssen Kinderbetreuung und Pflege gestärkt werden, damit – Stichwort Familienpflichten – die Menschen überhaupt mehr Stunden arbeiten können.

Die „Rente mit 63“

Im Volksmund wird sie „Rente mit 63“ genannt: die abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren. Als das Modell 2014 eingeführt wurde, konnten Versicherte tatsächlich mit 63 Jahren in Rente gehen – sofern sie 1951 oder früher geboren waren. Für jüngere Jahrgänge steigt die Altersgrenze schrittweise an, am Ende wird sie für alle ab Jahrgang 1964 bei 65 Jahren liegen. Derzeit liegt die Grenze bereits bei über 64 Jahren.

In Sachen Rente beten alle Fachleute die gleichen Reformoptionen herunter. Auch die Punkte, wo es Dissens gibt, sind längst ausdiskutiert. Die Regierung aber beruft erst einmal eine Kommission ein. Ist das Reformverweigerung?
Es ist gut und schön, wenn die Regierung eine Kommission über die Zeit ab 2035 oder 2040 nachdenken lässt. Das hilft uns aber im Hier und Jetzt herzlich wenig. Bis dahin sind sehr viele aus der Boomer-Generation längst im Ruhestand. Wir wissen, dass etwa die Hälfte eines Jahrgangs auf dem einen oder anderen Weg vorzeitig in Rente geht. 2023 wurde sogar noch die Hinzuverdienstgrenze abgeschafft, was einen starken Anreiz setzt, vorzeitig in Rente zu gehen und obendrauf weiter zu arbeiten. Das ist angesichts der demographischen Realität der reine Unfug und gehört dringend abgestellt.

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Bis 2031 steigt das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre. Genügt das?
Unser Rentensystem, so wie es ist, wird nicht mehr lange tragfähig sein. Das gilt auch für die anderen Sozialversicherungen. Wenn das System kollabiert, ist die Rente übrigens auch für diejenigen, die schon im Ruhestand sind, nicht mehr sicher. Wir kommen an dem Umstand nicht vorbei, dass wir Menschen zumuten müssen, länger zu arbeiten. Zumindest erstmal bis 67, perspektivisch aber auch noch länger. Wenn die Politik das nicht sieht, werden die Konsequenzen sehr, sehr hart.

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Das Modell Minijob hält viele Menschen davon ab, mehr als nur ein paar Stunden zu arbeiten. Muss es abgeschafft werden?
Der große Aufwuchs bei den Minijobs kam in den vergangenen Jahren durch Menschen, die eine Anstellung haben und sich einen Minijob nebenbei suchen. Das ist für die Sozialversicherungen ein großes Problem, denn für Minijobs fallen ja kaum Abgaben an. Also ja: Das Modell kann nicht bleiben, wie es ist, angesichts der Tatsache, dass überall Fachkräfte fehlen und viele Unternehmen sicher liebend gern das Stundenvolumen ihrer Teilzeitkräfte erhöhen würden.

Lesermeinungen zum Artikel

„Eines ist ganz sicher: Man kann sich zwar über den Sinn jeder einzelnen Maßnahme ausgiebig streiten und ideal bzw. schön davon ist nichts, aber wenn buchstäblich gar nichts geändert wird, wird das Rentensystem (und die Pflege, das Gesundheitssystem und das Bürgergeld) zusammenbrechen.

Wahrscheinlich wird es erst dann, wenn alle verlieren und grundsätzlich alles in Frage gestellt ist, eine Bereitschaft geben, dass jeder Zugeständnisse macht bzw. etwas gibt. Erst wenn alle bei Null ankommen, wird die Bereitschaft zur Einsicht da sein, dass etwas weniger von relativ viel immer noch mehr ist als gar nichts.“ Diskutieren Sie über folgenden Link mit Ilaria