Ja, unbedingt
sagt Alexander Cammann
Es ist ein Zeichen gegen das schleichende Gift der Gewöhnung: Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel erhält den diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Damit erhält nach der amerikanisch-polnischen Journalistin Anne Applebaum im vergangenen Jahr und dem ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan 2022 erneut ein Intellektueller diesen Preis, der sich früh und leidenschaftlich für eine militante Solidarität mit der von Putins Russland überfallenen Ukraine ausgesprochen hat.
Das ist ein mutiges Signal des Börsenvereins in einer Zeit, in der nicht mehr nur Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht, um des vermeintlichen „Friedens“ willen, gegen eine angebliche „Kriegslogik“ agitieren, also das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung gegen einen Aggressor. Sondern dieses Recht auch aus Washington, D. C. torpediert wird, bis es zumindest wackelig wirkt, in einer Zeit, in der das empörte Engagement so vieler Europäer allmählich entschlafen ist und in der mehr Menschen achselzuckend sagen: Was geht uns dieser ferne Krieg an?
Die Entscheidung für Karl Schlögel erinnert auch daran, dass man den Friedenspreis nie mit einem Preis für Pazifismus verwechseln durfte: Schlögels Engagement für eine militärische Unterstützung des Westens für die Überfallenen beruht keineswegs auf den Träumereien eines Moralisten, sondern stammt auch aus der realistischen Einsicht des Historikers, der sich über die dauerhafte Bedrohung des Friedens durch das russische Imperium nach einer möglichen Halbierung der Ukraine keinen Illusionen hingibt.
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Dass die Preisgabe der Ukraine dennoch eine ideelle Kapitulation des Westens wäre, weiß niemand besser als Schlögel. Der 1948 geborene Osteuropahistoriker hat viele preisgekrönte, so bahnbrechende wie stilistisch brillante Bücher zur russischen Geschichte geschrieben, zuletzt auch über Amerika. Als einer der Ersten ist er seit den frühen 1980er-Jahren neugierig nicht nur durch die Archive, sondern als intellektueller Reporter durch Russlands Weiten gestreift, auf der Suche nach den Mentalitäten, auch in Literatur und Kunst: dem stalinistischen, dem postsowjetischen, dem dissidentischen Geist, vor allem nach dem immer wieder aufbegehrenden Russland jenseits der ewigen brutalen Macht, auf das er seine Hoffnungen setzt. Aus diesen Erfahrungen der vom Westen so oft ignorierten Unterdrückten speisen sich Schlögels über die Jahrzehnte entstandenes Werk und seine Sensibilität gegenüber deren Kampf um einen Frieden, der mehr bietet als jene osteuropäische Friedhofsruhe vor 1989. Daher gibt es 2025 keinen besseren Friedenspreisträger als Karl Schlögel. In der Nacht vor der Bekanntgabe wurden 22 ukrainische Zivilisten durch russische Angriffe getötet.
Nein, bitte nicht
sagt Peter Neumann
Wieder also eine Stimme, die
sich in der Ukraine-Frage durch entschiedene Kriegsrhetorik hervorgetan
hat. Nach Serhij Zhadan und Anne Applebaum erhält nun Karl Schlögel den
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Alle drei: für sich genommen
hoch respektabel, ohne Zweifel. Und dennoch wirkt die Auswahl der
vergangenen Jahre frappierend einseitig.
Schlögel
gehörte zu den Ersten, die eine Flugverbotszone forderten; er warf
jenen Intellektuellen „Verrat“ vor, die etwa wie der Philosoph Jürgen
Habermas zu mehr Besonnenheit mahnten. Habermas, daran muss erinnert
werden, war auch für Waffenlieferungen an die Ukraine, verlangte aber
zugleich einen Plan für rechtzeitige Friedensverhandlungen. Während im
sendungsbewussten Westen die Rufe nach immer neuen Waffen, nach
Kampfjets, U-Booten, lauter wurden, plädierte er für eine europäische
Agenda mit klaren Zielsetzungen. Schlögel hingegen erklärte noch jüngst
bei der Verleihung des Gerda-Henkel-Preises, Deutschland müsse „alles
tun“, um der Ukraine im Abwehrkampf zu helfen. Putin habe, so Schlögel,
„alles in den Schatten gestellt, was man nicht einmal einem Dämon
zutraut“ – und er sprach nicht nur von „Putins Krieg“, sondern von einem
„russischen Krieg“.
Die
Jury muss sich fragen lassen, ob sie ihrem Statut nachkommt, in dem es
heißt, der Preis diene „dem Frieden, der Menschlichkeit und der
Verständigung der Völker“. Auch Applebaum nutzte ihre Friedenspreisrede
für einen flammenden Appell zur Unterstützung der Ukraine. Zhadan
schloss sich im vergangenen Jahr gar der Nationalgarde an und ist
seither für militärisch-zivile Kommunikation an der Ostfront zuständig.
Auf die Frage, wie der Krieg ihn verändert habe, sagte er einmal, es
gehe ihm besser, wenn er unter Gleichgesinnten sei. Alles andere habe an
Gewicht verloren. Auch die Literatur, das Schreiben.
Dass
man der Ukraine helfen muss, ist unstrittig. Aber wenn der
Friedenspreis nur noch jenen verliehen wird, die lautstark Waffen
fordern, gibt er seinen eigenen Anspruch auf. Erst kürzlich forderten
sechs Intellektuelle in der ZEIT, unter ihnen der Soziologe Hartmut
Rosa, die Schriftstellerin Juli Zeh und die Rechtsphilosophin Frauke
Rostalski, beim Thema Krieg dürfe man nicht dieselben Fehler wie während
der Coronapandemie begehen: Man müsse reden, diskutieren, gerade weil
es sich um Triggerpunkte handelt. Mit ihrer Entscheidung für Karl
Schlögel hat die Jury der Unterstützung der Ukraine einen Bärendienst
erwiesen. Man muss Frieden nicht mit Pazifismus verwechseln, um zu
erkennen, dass es jenseits der eingeübten Diskurslogiken ein Denken
gibt, das sich nicht immer gleich in Maximalforderungen erschöpft.