Es geht wieder los, der Urlaub steht vor der Tür: Seit Goethe vor seinem Weimarer Hofbeamtenfrust nach Italien geflohen ist, gilt Reisen als die populärste Form des Glücks. Doch es gibt noch eine andere: Lesen. Beides lässt sich gut verbinden, egal wohin die Reise geht, auf den Balkon, an nahe oder ferne Gestade, tauende Permafrostgebiete – mit Büchern kommt man auf die nachhaltigste Weise in der Welt herum. Hier ein paar Vorschläge aus unserer Redaktion.

Bettknarzer und Sackkratzer Foto: Verlag

Wer im Urlaub nach Rom reist – vielleicht „auf den Spuren Goethes“, wie es so schön heißt – sollte Golo Maurers Buch „Heimreisen“ (Rowohlt, 28 Euro) mit sich führen. Maurer, Leiter der Bibliotheca Hertziana in Rom, beschreibt am Beispiel der berühmten Italienreise des deutschen Dichterfürsten die Sehnsucht der Deutschen nach dem Land, wo die Zitronen blühen und sich Antiken-Verehrung mit erotischer Verheißung paart. Der Flucht- und Selbsterfahrungstrip mobilisierte zahllose Epigonen. Immerhin entkam der „Oberfluchtmeister“ Goethe mit seinem Italientrip der weniger erotisch als intellektuell befeuerten Beziehung zu Charlotte von Stein, über die ihn eine zugängliche Römerin hinwegtröstete. Jene „Faustina“ drang durch Goethes „lieblich knarzendes Bett“ zügig in den Olymp der deutschen Geistesgeschichte vor. Danach gab es kein Halten mehr: Goethe-Verehrer stolperten im 19. Jahrhundert in den zu großen Fußstapfen des Meisters durch die gleißenden und schmutzigen Gassen Roms und linderten ihre Enttäuschung durch koloniale Überlegenheits-Tiraden bis hin zu einem „Flirt mit dem Faschismus“ wie Maurer schreibt. Viel später ist es dann der rabiate Poet Rolf Dieter Brinkmann, der sich über den mediterranen Dreck erregt und die Bewohner Roms als „Sackkratzer“ tituliert. Golo Maurer beschreibt diese Italien-Manie der Deutschen und ihre Abkühlung mit funkelnder Ironie und demaskierendem Humor. Wäre das Buch von Florian Illies geschrieben worden, wäre es längst ein Bestseller.

Martin Gerstner wird im Italienurlaub mit Freunden ein Haus im Hinterland Liguriens renovieren. Unklar ist, ob er dabei noch zum Lesen kommt. Aber das wichtigste Italienbuch der letzten Jahre kennt er ja schon.

Die Abenteuer stilvollen Wohnens Foto: Verlag

Paul, ein Mann, der katalanische Sandalen auf einem glänzenden Betonfußboden aufbewahrt und beruflich das perfekte Weiß für eine dunkle Halle in Norwegen finden soll, ist der Protagonist in Christian Krachts Roman „Air“ (Kiepenheuer & Witsch, 25 Euro). Wer würde nicht weiterlesen und darauf hoffen, noch mehr Anspielungen an den innenarchitektonisch radikalen Helden Jean Floressas Des Esseintes aus Joris-Karl Hysmans „Gegen den Strich“ (dtv, 14 Euro) aus dem Jahr 1884 zu finden? Nur jene haben dafür keine Zeit, die sich von Doris Dörries Erzählung „Wohnen“ (Hanser Berlin, 14,99 Euro) inspirieren lassen. Die Filmemacherin beschreibt in dem Text, wie viel Vergnügen es machen kann, mit Immobilienmenschen weitläufige Villen zu besichtigen.

Nicole Golombek wird den Sommer damit verbringen, den perfekten Vorhang für die Fenster ihrer Bibliothek zu finden.

Vorstöße in die Untiefen der Existenz Foto: Verlag

Wer kann besser über Liebe, Leidenschaft und das Leben überhaupt schreiben als die Franzosen? In der literarischen Beschwörung von Freud und Leid des Begehrens wie den Untiefen der Existenz sind die Hexagonen Weltmeister, und gerade hat sich Nicolas Mathieu als exzellenter Schüler dieser Disziplin erwiesen: Sein Bändchen „Jede Sekunde“ (Hanser Berlin, 20 Euro) erzählt soghaft und intensiv von einer heimlichen Affäre. Weil es so schmal und doch prallvoll ist, passt es in jedes Urlaubsgepäck, auch das kleinste. Und weil Kontraste für jeden gelungenen Urlaub entscheidend sind, empfehlen wir als Ergänzung Oliver Hilmes’ „Ein Ende und ein Anfang. Wie der Sommer 45 die Welt veränderte“ (Siedler, 25 Euro). Der promovierte Zeithistoriker zoomt in die Wochen zwischen der Kapitulation Deutschlands im Mai und dem Ende des Zweiten Weltkriegs im August 1945 – und schließt schlaglichtartig individuelle Schicksale und Weltgeschichte zu einem so packenden wie erhellenden Leseerlebnis kurz. Ein Geschichtsbuch, in dem man mindestens so gern versinkt wie in den Anblick einer schönen Urlaubslandschaft.

Ulla Hanselmann weiß, dass beim Packen des Bergtourenrucksacks jedes Gramm zählt. Ein Buch aber muss mindestens mit.

Souvenirs aus der Unterwelt Foto: Verlag

Allein schon der Titel qualifiziert Zach Williams’ Debüt für die Zeit, die nun anbricht: „Es werden schöne Tage kommen“ (DTV, 24 Euro). Was natürlich doppeldeutig ist, je nachdem, ob man darunter Urlaub versteht oder die merkwürdig schillernde Gegenwart, die sich in diesen zehn Shortstorys spiegelt. Das einst optimistische Gefühl, unser Leben könnte in einen Horizont unbegrenzter Möglichkeiten gestellt sein, kippt darin ins Unheimliche. Williams’ Erzählungen sind Postkarten faszinierender Spritztouren in das kollektiv Unbewusste unserer Zeit. Nicht minder lohnend ist Christine Wunnickes Reise in das Paris des 18. Jahrhunderts. „Wachs“ (Berenberg, 24 Euro) handelt von der Liebe einer Anatomin und einer Blumenmalerin, von Körpern aus Wachs und solchen aus Fleisch und Blut, einige davon allerdings ohne Kopf. „An einem dunkeln Abend im November 1733, lange nach Einbruch der Dunkelheit, stapfte eine kleine Person durch die Wiese, welche die Rue des Fille Angloises von der Kaserne der Schwarzen Musketiere trennte.“ Wer wollte ihr nicht folgen?

Stefan Kister lässt sich in der Aare durch die Schweiz treiben und packt in seinen Wickelfisch auch das ein oder andere Buch – hoffentlich geht das gut.

Interkulturelle Schularbeiten Foto: Verlag

Mit nur 200 Seiten ist „Mama, bitte lern Deutsch“ (Knaur, 18 Euro) an einem Ferientag gelesen – und bleibt doch weit über den Sommer hinaus im Kopf. Tahsim Durgun, Sohn jesidischer Kurden und durch Social Media bekannt, erzählt mit trockenem Humor von Alltagsrassismus und der Rolle seiner Mutter in seinem Leben. Er beschreibt den Moment, als ihm bewusst wird, dass sie kein Deutsch spricht – und welche Konsequenzen das für ihn haben wird. So soll er sich in der dritten Klasse im Religionsunterricht die Füße waschen lassen. Die Lehrerin zögert, fragt nach seiner Religion und ruft kurzerhand seine Mutter an, als er mit „Oldenburg“ antwortet. Mareike darf ihm schließlich die Füße waschen. Zuhause stellt sich heraus, Tahsims Mutter hat das Telefonat gar nicht verstanden: „Ich dachte, das sind normale Schularbeiten, aber die Deutschen waschen den Kindern in der Schule die Füße. Denken die, ich kann das nicht zu Hause machen?“

Katrin Maier-Sohn verschwindet im Urlaub gerne mal den ganzen Tag hinter einem Buch.

Unterhaltsame Pflege der Großhirnrinde Foto: Verlag

„Ähm, genau, mega“ – uninspirierte Sprache begegnet uns heute überall. Während Podcasts sich immerhin in doppelter Geschwindigkeit abspielen lassen und dadurch erträglicher werden, flutet der sprachlich unterkomplexe Content uns auch in Schriftform. Schlechter Text wird zur Massenware – und das kostenlos! Danke auch. Glücklicherweise können manche diese Zumutungen so unterhaltsam sezieren wie der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp in seinem Essay „Irgendwie so total spannend“ (Zu Klampen!, 18 Euro). Zur Pflege unserer Großhirnrinde betreiben wir diesen Sommer also am besten Relektüre. Zum Beispiel mit der gelungenen Neuauflage von Colettes „Chéri“ (Manesse, 26 Euro), jenem frechen französischen Klassiker, der schon 1920 erschienen ist. Passend zum heutigen Zeitgeist der potenten Frau in der Menopause geht es darin um die Leidenschaft einer alternden Dame für einen viel jüngeren Mann.

Eva-Maria Manz könnte an dieser Stelle übrigens auch viele sehr gute Podcasts empfehlen.

Déjà-vus für einen Wien-Besuch Foto: Verlag

Manche Kulturen sehen Zeit als Zirkel: Die Gegenwart war schon einmal und wird wiederkehren. In der Tat: Einige Debatten unserer Zeit sind ein Déjà-vus. Richard Cockett spürt in „Stadt der Ideen: Als Wien die moderne Welt erfand“ (Molden, 40 Euro) dem intellektuellen Klima der österreichischen Hauptstadt in der Zwischenkriegszeit nach. Die Themen kommen uns bekannt vor: Emanzipation der Frauen, Befreiung der Sexualität und das Ringen der Vernunft mit Nationalismus und Antisemitismus. Nach dem „Anschluss“ Österreichs flohen viele kluge Köpfe in die USA und sorgten dort für einen gewaltigen intellektuellen Schub – in Architektur, Psychologie, Marktforschung, Design und auf Dutzenden anderen Feldern. Ohne diese Migranten aus Wien sähe die Gegenwart völlig anders aus. Ein Buch mit zwei klaren Botschaften: Ideen entstehen nur in freien Gesellschaften – und Migration bereichert eine Kultur.

Markus Reiter liebt Besuche in der österreichischen Hauptstadt und hat dort inzwischen einige Lieblingsorte.

Ernstes in beglückender Form Foto: Verlag

Muss Urlaubslektüre immer leicht und flockig sein? Wen zum Beispiel schon seit Monaten die Frage beunruhigt, ob uns „Weimarer Verhältnisse“ drohen, der wird die Antwort bei Jens Bisky finden. Sein Sachbuch „Die Entscheidung“ (Rowohlt Berlin, 34 Euro) schildert die fünf Jahre von 1929, als es in Deutschland gerade relativ stabil zuging, bis 1934, als vom demokratischen, liberalen Rechtsstaat ratzekahl nichts mehr übrig war. Biskys Stärke: Er hat die ganze Gesellschaft im Blick, neben Regierung und Parteien auch die Stimmung in Kultur oder Sport, und nicht nur im trubeligen Berlin, sondern auch in der scheinbar stillen Provinz. Meine persönliche Antwort auf obige Frage lautet nach Lektüre übrigens: Ja. Wer allerdings auf Reisen nur Romane lesen mag, dem empfehle ich „Der Gärtner und der Tod“ von Booker-Preisträger Georgi Gospodinov (Aufbau Verlag, 24 Euro) – ein wunderbar poetisches, trauriges, aber dann auch wieder heiteres, liebevolles, sanftes Buch über etwas, was uns früher oder später alle beschäftigt: den Abschied von den Eltern.

Tim Schleider will am Strand immer ganz viel lesen und guckt dann doch wieder nur die ganze Zeit aufs Meer.