Bielefeld. Ein SUV-Fahrer beugt sich aus dem Fenster, um den neben ihm fahrenden Fahrradfahrer mit den Worten abzukanzeln: „Du weißt schon, dass du meine Straße überlastest!?“ Mit dieser ungewöhnlichen und humorvollen Zusendung formuliert NW-Leser Kai Schulte aus Bielefeld treffend seine Kritik am neuen Verkehrsgutachten der Industrie- und Handelskammer Ostwestfalen zu Bielefeld. Dass seine Meinung von vielen geteilt wird, zeigen die zahlreichen Reaktionen, die uns auf unsere Berichterstattung hin erreicht haben. Wir haben einige ausgewählt. Auch der Verein „Bielefeld pro Nahverkehr“ äußert sich, und ein stadtbekannter Verkehrsexperte meldet sich mit Lösungen für den Stadtverkehr zu Wort.

Carsten Birnstein von „Bielefeld pro Nahverkehr“ nimmt Stellung zu den jüngsten Erkenntnissen der von der IHK beauftragten Studie. Die Macher, ein Düsseldorfer Gutachterbüro, waren darin zu dem Schluss gekommen, dass 15 Prozent der wichtigsten Verkehrsadern für den Stadtverkehr, die das sogenannte Kernstraßennetz bilden, schon jetzt überlastet sind. Hier müssten Projekte für Nah- und Radverkehr genau überdacht werden, zum Beispiel sei das Reduzieren von Fahrstreifen problematisch.

„Dass die Verlängerung der Linien 1 und 2 für das Kernstraßennetz kritisch werden können, ist falsch.“ (Carsten Birnstein, Bielefeld pro Nahverkehr)

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Birnstein widerspricht mit einem Beispiel: „Die Behauptung, dass die Verlängerung der Stadtbahnlinie 1 nach Sennestadt und eine Verlängerung der Linie 2 nach Hillegossen für das Kernstraßennetz kritisch werden können, ist falsch. Das Gegenteil ist der Fall, weil dadurch viele Fahrzeuge entfallen können, wenn der ÖPNV genutzt wird.“

Die Nutzung von Nebenstraßen sei zudem keine Lösung, urteilt der Vorsitzende des Vereins, der sich für eine effiziente und nachhaltige Verkehrsentwicklung mit ÖPNV-Ausbau einsetzt. „Man kann den Verkehr nicht durch die Straßen der Stadt fließen lassen wie Wasser durch Kanäle. Insofern ist der Vorschlag der von IHK beauftragten Gutachter, Verkehre zu entflechten und Nebenstraßen frühzeitig in die Verkehrsplanung einzubeziehen, nicht zielführend“, glaubt Birnstein. Verkehre müssten gesteuert werden.

Neues Verkehrsgutachten: Bielefelds wichtigste Verkehrsadern: Welche Straßen schon jetzt überlastet sind

Radverkehr und ÖPNV in Bielefeld vernachlässigt

Die im Gutachten festgestellten Straßen mit großer Verkehrsbelastung seien für Bielefelder keine große Überraschung. Gerade deswegen sei es wichtig, den Individualverkehr in der Stadt zu begrenzen, über ein gutes ÖPNV-Angebot aufzufangen und so Alternativen zu schaffen. So habe dann auch der Wirtschaftsverkehr seinen notwendigen Platz, erklärt Birnstein. „Wer den Eindruck hat, dass in Bielefeld Radverkehr und ÖPNV überproportional gefördert werde, vergisst, dass diese Bereiche der Mobilität lange Zeit stiefmütterlich behandelt wurden.“ „Bielefeld pro Nahverkehr“ plädiere für einen Ausbau des ÖPNV bis an den Stadtrand, wo mittels großer Park&Ride-Plätze (P&R) Autofahrer künftig günstig umsteigen sollten.


An der Haltestelle August-Bebel-Straße soll ein barrierefreier Hochbahnsteig gebaut werden. Bisher werden lediglich die Stufen der Stadtbahn abgesenkt. - © Barbara Franke

An der Haltestelle August-Bebel-Straße soll ein barrierefreier Hochbahnsteig gebaut werden. Bisher werden lediglich die Stufen der Stadtbahn abgesenkt.
| © Barbara Franke

Der barrierefreie Ausbau der Stadtbahnhaltestellen der Linie 2 an der Detmolder Straße, den die Gutachter ebenfalls als kritisch beurteilen, habe keine ernsten Konsequenzen für den Stadtverkehr, ist sich Birnstein zudem sicher. Die Hochbahnsteige würden sich genauso in die Straße einfügen, wie die schon bestehenden Haltepunkte.

„Eine durchgehend einstreifige Verkehrsführung könnte den Verkehrsfluss auf der Detmolder Straße sogar verbessern.“ (Nutzer „Alleineweber“ auf nw.de)

Dieser Meinung schließt sich Kommentator „Alleineweber“ auf nw.de an: Schon jetzt sei der Kfz-Verkehr an der Detmolder Straße im Bereich der Stadtbahnhaltestellen Teutoburger und August-Bebel-Straße de facto einspurig, weil es durch Lieferverkehr, Radfahrer, Bauarbeiten, die Stadtbahn und zahlreiche Autofahrer, die nicht auf den Schienen fahren möchten, zu zahlreichen Situationen komme, in denen nur eine der Fahrspuren genutzt werde. „Eine durchgehend einstreifige Verkehrsführung könnte den Verkehrsfluss sogar verbessern, weil damit die ständigen Spurwechsel wegfielen, die dort derzeit den Verkehr aufhalten.“

Haltestellenausbau an der Detmolder Straße

Kommentator MICHI_72 schreibt auf nw.de: „Die Studie geht vom Status quo des Verkehrsverhaltens aus, berücksichtigt aber überhaupt nicht politisch längst erklärte verkehrsplanerische Zielsetzungen wie die Reduzierung des innerstädtischen Pkw-Verkehrs. Weiterhin müssen aus rechtlichen Gründen die Straßenbahnhaltestellen auch an der Detmolder Straße irgendwann barrierefrei werden. Eine Alternative zu Hochbahnsteigen an der Stelle gibt es überhaupt nicht mehr.“ Richtig sei jedoch, dass das Bielefelder Verkehrssystem ohne Änderung des Verkehrsverhaltens bald an Grenzen stoße.

„Der Ausbau des Stadtbahnnetzes nach Vilsendorf, Theesen, Jöllenbeck bzw. Dornberg mit P&R-Angeboten ist zu priorisieren, hier werden die Straßen in Citynähe nicht mehr breiter.“ (Nutzer „Meierpost“ auf nw.de)

Für einen Stadtbahnausbau spricht sich auch Nutzer „Meierpost“ auf nw.de aus: „Man sieht deutlich, dass der Verkehrsinfarkt am stärksten in Richtung Bielefelder Norden stattfindet. Daher ist der Ausbau des Stadtbahnnetzes mit der Verlängerung der Linien 1,3 und 4 nach Vilsendorf, Theesen, Jöllenbeck bzw. Dornberg mit P&R-Angeboten zu priorisieren, denn hier werden die Straßen in Citynähe nicht mehr breiter“, kommentiert er das Gutachten. Laut der Studie sind Teile von Jöllenbecker Straße, Engerscher Straße/Beckhausstraße, Stapenhorststraße und Herforder Straße schon jetzt überlastet.

Mehr zum Thema: Trassen gesucht: Neue Pläne für die Stadtbahn in den Bielefelder Norden


Die Karte zeigt, wo Straßen des Hauptverkehrsnetzes in Bielefeld schon jetzt überlastet sind. Kritisch sind die roten und dunkelroten Stellen. - © Gutachterbüro Lindschulte/ IHK Ostwestfalen zu Bielefeld

Die Karte zeigt, wo Straßen des Hauptverkehrsnetzes in Bielefeld schon jetzt überlastet sind. Kritisch sind die roten und dunkelroten Stellen.
| © Gutachterbüro Lindschulte/ IHK Ostwestfalen zu Bielefeld

Verkehr in Bielefeld vor grundsätzlichem Dilemma

Der langjährige Bielefelder Lokalpolitiker (SPD) und Verkehrsexperte Godehard Franzen meldet sich per Leserbrief ausführlich zu Wort: „Ganz schlicht formuliert ist das Grunddilemma: Wir haben zu viele Autos bzw. Autofahrten für zu wenig Straßen. Wir müssen die Grundsatzfrage beantworten: Wollen wir so viele Autos in der Stadt, tun sie der Stadt und den Menschen – und nicht zuletzt dem Klima – gut? Ich bin sicher: Eine große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger findet die vielen Autos in der Stadt nicht gut. Dann muss man an die Frage ran: Woher kommen die vielen Autos? Das Anwachsen der Zulassungszahlen und damit des Autoverkehrs ist ja kein naturgesetzlicher Vorgang, sondern Folge von Rahmenbedingungen und Strukturen, die von Menschen, also von der Politik, gemacht sind.“

„Auch ein fahrgeldloser ÖPNV wäre nicht der Retter“ (Godehard Franzen, Verkehrsexperte)

Es gebe nicht den einen großen Hebel, das zu ändern, so Franzen. „Auch ein fahrgeldloser ÖPNV wäre nicht der Retter. Vielmehr müssen viele Puzzleteilchen zusammengesetzt werden, um Wirkung zu erzielen.“ So würden in Bielefeld zu viele Anreize gesetzt, um Autos anzulocken. Als Beispiele nennt der ehemalige Professor und Bundesverdienstkreuzträger kostenloses Parken in der Rathaustiefgarage für die erste halbe Stunde, den vierspurigen Ausbau der B66 ab Stadtgrenze in Richtung Lage und Kosten für Anwohnerparkplätze von 30 Euro pro Jahr, also acht Cent pro Tag.

Verkehrsexperte: Bielefeld hat ein zu kurzes Stadtbahnnetz


Godehard Franzen, Verkehrsexperte und langjähriger Lokalpolitiker in Bielefeld (SPD), erklärt, dass vergleichbare Städte oft ein deutlich längeres Stadtbahnnetz haben als Bielefeld. - © Wolfgang Rudolf

Godehard Franzen, Verkehrsexperte und langjähriger Lokalpolitiker in Bielefeld (SPD), erklärt, dass vergleichbare Städte oft ein deutlich längeres Stadtbahnnetz haben als Bielefeld.
| © Wolfgang Rudolf

Gleichzeitig gebe es zu wenig Anreize, vom Auto umzusteigen, Planungen gingen nur schleppend voran: „Seit der finalen Inbetriebnahme der Unilinie im März 2002 hat es keine nennenswerte Erweiterung des Stadtbahnnetzes gegeben“, kritisiert Franzen. „Bielefeld hat mit circa 36 Kilometern ein sehr kurzes Netz, vergleichbare Städte haben 60 Kilometer und mehr. An der Verlängerung der Linie 1 nach Sennestadt wird seit über 10 Jahren geplant, und trotzdem ist noch nicht einmal ein Planfeststellungsverfahren eingeleitet.“

Mehr zum Thema: Explodierende Kosten für Stadtbahnerweiterung in Bielefeld

Im Dezember 2021 habe der Bielefelder Rat zudem einen neuen Nahverkehrsplan mit Maßnahmen zur Angebotsverbesserung bei Bus und Bahn beschlossen, der bisher weitestgehend nicht umgesetzt worden sei.

„Ein einfaches und nahezu kostenfreies Instrument zur Förderung des Radverkehrs ist Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit.“ (Godehard Franzen, Verkehrsexperte)

Eine Lösung für die Verkehrsprobleme aus Sicht des Verkehrsexperten? „Ein einfaches und nahezu kostenfreies Instrument zur Förderung des Radverkehrs ist die flächenhafte Absenkung der Höchstgeschwindigkeit, also Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit. Allein dadurch kann man die Fahrradnutzung um mindestens 20 Prozent steigern, entsprechend würde der Autoverkehr reduziert. In vielen Nachbarländern können die Kommunen Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit einführen. Viele tun das auch, mit gutem Erfolg und zunehmender Akzeptanz. In Deutschland geht das (noch) nicht. Aber die neue Straßenverkehrsordnung schafft neue Spielräume. Wann endlich werden sie genutzt?“

Radikales Konzept: Stadt will jetzt Tempo 30 in der kompletten Bielefelder City

Autoanteil in Bielefeld im Städtevergleich hoch

Gleichzeitig betont Franzen, es gehe nicht darum, das Auto zu verteufeln. „Es geht auch nicht um Verbote oder Bevormundung. Sondern es geht darum, vermeidbare, nicht notwendige Autofahrten auf andere Verkehrsmittel zu verlagern, durch Abbau von Anreizen zur Autonutzung und durch Verbesserungen bei den Alternativen. Bielefeld hat einen Autoanteil an den täglichen Wegen von aktuell 49 Prozent. Es gibt viele vergleichbar große Städte, die deutlich unter 30 Prozent liegen. Wenn wir den Autoanteil deutlich senken, werden die Staus entschärft und die Lebens- und Aufenthaltsqualität deutlich verbessert. Das käme nicht zuletzt den notwendigen Wirtschaftsverkehren zugute.“