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Das Online-Netzwerk 764 steht im Verdacht, Minderjährige gezielt manipuliert, sexuell ausgebeutet und in Einzelfällen bis in den Suizid getrieben zu haben. Nun zeigt sich, dass bundesweit Ermittlungen laufen. Wie schwierig solche Ermittlungen sind, zeigt ein Fall in Kanada.
Von S. Eckert, A. Ruprecht, K. Erdmann, A. Henkel, NDR
In mindestens fünf Bundesländern ermitteln Behörden aktuell gegen mutmaßliche Mitglieder des Online-Netzwerks 764. Entsprechende Verfahren laufen nach NDR-Recherchen in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Sachsen und Hamburg. Weitere Bundesländer verweisen auf andauernde Prüfungen oder tun sich schwer, Fälle eindeutig dem Netzwerk zuzuordnen.
Das pädokriminelle, sadistische Online-Netzwerk 764 und weitere Untergruppen gelten als extrem manipulativ und gefährlich. Mitglieder sollen gezielt Kinder und Jugendliche zum Beispiel auf Spiele-Plattformen wie Roblox, Minecraft oder in sozialen Netzwerken angesprochen haben, um sie dann zu manipulieren, sexuell auszubeuten und zu quälen. In Einzelfällen wurden offenbar Minderjährige gezielt in den Suizid getrieben.
Strukturen offenbar größer als bekannt
Öffentlich bekannt wurde 764 im Juni nach der Festnahme eines 20-Jährigen in Hamburg. Der Mann steht im Verdacht, unter dem Online-Namen „White Tiger“ schwere Sexualstraftaten, versuchten Mord und Mord begangen zu haben. Laut seiner Anwältin bestreitet der Beschuldigte die Vorwürfe. Die Hamburger Staatsanwaltschaft ermittelt inzwischen auch gegen einen weiteren Verdächtigen, der ebenfalls dem Netzwerk angehören soll. Die Strukturen in Deutschland sind offenbar größer als bisher bekannt, zeigen NDR-Recherchen.
In Baden-Württemberg laufen laut Landeskriminalamt (LKA) mehrere Verfahren im „unteren einstelligen Bereich“, beteiligt ist auch das Staatsschutz- und Antiterrorismuszentrum SAT-BW. Rheinland-Pfalz nennt eine „mittlere einstellige Zahl“ an Verfahren seit 2021. In Sachsen ermittelt laut dortigem LKA die Staatsanwaltschaft Dresden in einem Fall, ein weiterer wird im Auftrag des Bundeskriminalamtes (BKA) bearbeitet.
Das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen bestätigt gegenüber dem NDR laufende Ermittlungen mit Bezug auf 764. Demnach erhielt man nach eigenen Angaben allein 2025 neun Berichte der US-Kinderschutzorganisation NCMEC, ein weiterer stammt aus dem Jahr 2024. Die Hinweise betreffen laut LKA zwei Tatverdächtige und zwei mutmaßlich betroffene Minderjährige. Weitere Verfahren laufen demnach auf Grundlage von Strafanzeigen.
Kanadischer Fall zeigt: Behörden reagieren oft zu spät
Wie langsam Ermittlungen verlaufen und wie schwierig es für Behörden ist, das Phänomen einzuordnen und dem nachzugehen, zeigt der Fall von Jason Sokolowski und seiner Tochter aus Vancouver, Kanada. Über Monate sei die 14-jährige in stundenlangen Chats emotional abhängig gemacht worden, berichtet der Vater im NDR-Interview. Zunächst habe er den Kontakt für harmlos gehalten, doch dann sei er auf Ritzwunden auf ihren Armen aufmerksam geworden.
Seine Tochter habe dann von einer Art „Selbstverletzungs-Sekte“ berichtet. Daraufhin habe er Hilfe gesucht. Doch seine Warnungen seien auf Skepsis gestoßen: „Die Polizei hielt mich für einen überforderten Vater. Niemand verstand, wovon ich sprach.“ Anfang des Jahres beging die Tochter Suizid. Inzwischen ermitteln die örtlichen Behörden in dem Fall.
Täter agieren strategisch
Cyberkriminologen und Präventionsstellen beschreiben das Vorgehen von Netzwerken wie 764 als hochgradig organisiert. Die Täter suchen gezielt nach verletzlichen Jugendlichen, etwa nach queeren Accounts, Anzeichen familiärer Konflikte oder depressiven Inhalten. Auch Jason Sokolowski glaubt, dass genau diese Faktoren seine Tochter für die Täter sichtbar machten: „Sie war queer, ihre Eltern lebten getrennt. Alles davon schien sie verwundbar zu machen.“
Einmal identifiziert, beginnt ein Prozess der Bindung. Sogenannte „Love Bombing“-Phasen wechseln sich mit Abwertung und Isolation ab. Über Monate entsteht ein emotionales Abhängigkeitsverhältnis. Cybergrooming nennen das Experten.
Nationale Strukturen gegen globale Täter
Der Cyberkriminologe Thomas-Gabriel Rüdiger von der Hochschule der Polizei Brandenburg beschäftigt sich seit Jahren mit Cybergrooming und spricht von einem globalen digitalen Raum, dem Ermittlungsbehörden und -mechanismen gegenüber stünden, die national und föderal aufgestellt seien. Damit erreiche man viele Täter gar nicht.
Hinzu komme: Ermittlungen liefen häufig im Verborgenen. Täter würden einzeln verfolgt, ohne dass das Netzwerk sichtbar erschüttert würde. Der Experte spricht von einer fehlenden „generalpräventiven Präsenz“ im Netz. „Wir wären viel weiter, wenn mehr Sicherheitsbehörden tatsächlich im digitalen Raum präsent wären“, sagt er.