Die 1984 in Oslo geborene Imislund studierte Journalistik, Jura und Wirtschaft, arbeitete später im norwegischen Umweltministerium und gründete die Literaturzeitschrift Mopp. Der Band mit neun Kurzgeschichten ist ihre erste Prosaveröffentlichung, in Norwegen hat Imislund ansonsten Lyrikbände herausgebracht.
Aller Dinge Kern zu ergründen, fällt ihren Figuren nicht immer ganz leicht, und was sie dabei entdecken, ist auch nicht unbedingt erfreulich, aber auf jeden Fall überraschend. Wenn die junge Frau in der ersten Erzählung mit Sack und Pack in die Wohnung des Geliebten einzieht – denn dieser hat ihr versichert, dass seine Ehefrau endgültig ausgezogen ist –, dann ahnt man sofort, dass der Mann es mit der Wahrheit nicht ganz so genau genommen hat; aber mit dem, was dann passiert, konnte dann doch niemand rechnen.
Dass eine Autorin (auch) aus der Perspektive eines männlichen Erzählers berichtet, noch dazu überzeugend, kommt nicht so oft vor.
Und der Mann, der zu Weihnachten unbedingt das Grab seiner Tante Louise besuchen muss, um das er sich bisher nie gekümmert hat, welches Geheimnis hat er? Ehe sich das klärt, sitzt er noch einem Irrtum auf und muss sich mit den Worten »Verzeihen Sie, ich habe mich im Grab geirrt« aus der Affäre ziehen.
Die Geschichten sind ganz unterschiedlich lang, alles zwischen vier und 30 Seiten ist dabei. Die ganz kurzen sind vielleicht eher als Skizze zu bezeichnen, etwa aus dem Alltag einer Fahrkartenverkäuferin oder dem eines Modelleisenbahnfans.
Auch dies ist eine Stärke von Imislund: Dass eine Autorin (auch) aus der Perspektive eines männlichen Erzählers berichtet, noch dazu überzeugend, kommt schließlich nicht so oft vor. Die Pralinenschachtel, die in der zweiten Geschichte die Hauptrolle spielt, bleibt stumm, es wird über sie geredet, während sie immer weiterverschenkt wird. Gesamteindruck: ein wunderbares Buch!
Helene Imislund: Aller Dinge Kern. Aus dem Norwegischen von Nora Pröfrock. Verlag Trottoir Noir, Leipzig 2025, 144 Seiten, 22 Euro