Das zweite RUSH-Album “Fly By Night” erschien am 14. Februar 1975, knapp ein Jahr nach dem selbstbetitelten Debütalbum des Progressive-Rock-Trios. Das hatte Kollege Endres einst äußerst präzise als Werk bezeichnet, auf dem die Kanadier LED ZEPPELIN, CREAM und YES nacheiferten und wo sogar Geddy Lee seinen Gesang am Vorbild Robert Plant ausrichtete. Folglich kam es bei zeitgenössischen Kritikern nicht besonders gut an, wohingegen man “Rush” in der Rückschau deutlich wohlwollender begegnen darf.

Finding My Way

Auf “Fly By Night” sollten RUSH allerdings beginnen, ihren eigenen Weg einzuschlagen – ganz im Sinne des Openersongs “Finding My Way” vom Debütalbum. Doch zunächst mussten sie eine harte Entscheidung treffen, die einem anderen Lied, “Take A Friend”, diametral entgegenstand: Drummer John Rutsey konnte aufgrund seiner Diabeteserkrankung das gewünschte Livepensum nicht absolvieren und wurde vor die Tür gesetzt. „Take yourself a friend / Keep ‚em till the end“? Nicht so richtig. Auf Rutseys Schemel nahm Neil Peart Platz, welcher fortan der Musik durch sein variantenreiches Spiel seinen Stempel aufdrücken und den Großteil der Texte verfassen sollte. Das Trio Geddy Lee, Alex Lifeson und Neil Peart blieb über vier Jahrzehnte und bis zum Ende zusammen, bis Peart 2020 nach einer Krebserkrankung starb.

Doch zurück zu den Anfängen: Die erste Feuerprobe bestand der neue Drummer auf RUSHs Tour im Vorprogramm von URIAH HEEP und MANFRED MANN’S EARTH BAND, deren Erfolg sich bereits an dem ersten Konzert vor 11.000 Zuschauern in Pittsburgh bemessen lassen kann. Und schon bald hatten die drei Musiker genügend neue Stücke geschrieben, um im Dezember 1974 ins Studio zu gehen.

Take A Friend?

“Fly By Night” erscheint im Februar 1975 und zeigt bereits optisch den neuen Weg der Band: Das babyblaue Albumcover mit der Eule, die ihre Schwingen ausbreitet, ist natürlich weit vom Debütalbum entfernt, wo einfach nur das Bandlogo im Comicstil möglichst dynamisch aufploppt. Auch die mit Weichzeichner aufgenommenen Bilder der Bandmitglieder deuten einen Richtungswechsel an.

Und der ist hörbar: Begünstigt durch einen transparenteren Sound ist das variantenreichere, ja progressive Schlagzeugspiel von Neil Peart bereits beim Opener “Anthem” deutlich zu vernehmen. Die Gitarrenarpeggien sind verwinkelter und der Gesang ähnlich selbstbewusst wie die knackigen Bassläufe. Dass das Album aber nicht komplett mit der Vergangenheit bricht, zeigen “Best I Can” und “Beneath, Between & Behind” – gerade letzteres Stück schippert immer noch sehr deutlich im Fahrwasser von LED ZEPPELIN. Schlecht ist das aber dennoch nicht.

“Fly By Night” bricht nicht komplett

Mit “By-Tor & The Snow Dog” dringen die drei Musiker dann aber erstmals auf diesem Album in progressive Gefilde ein. Den ambitionierten Ansatz dokumentiert die Tracklist, die dem 8:40 Minuten langen Song gleich acht Sektionen zuweist. Der Hintergrund zum Stück über Prince By-Tor und den Schneehund, die miteinander kämpfen, ist allerdings ziemlich banal: Den Ausgangspunkt bilden die beiden Hunde von RUSHs Manager, welche die Spitznamen Biter und Snowdog abbekamen. Geddy Lee erinnert sich: „Wir müssen eines Tages high gewesen sein, als wir uns ein Lied über diese beiden Hunde vorstellten. Und dann machte sich Neil an die Arbeit und schrieb es.“ Später bezeichnete er den Song als „einen Witz, der außer Kontrolle geriet“.

Ganz unbissig und handzahm gibt sich der Beginn der zweiten LP-Seite mit dem Titelsong: “Fly By Night” handelt von Pearts Erfahrungen, als er als junger Musiker von Kanada nach London zog, bevor er zu RUSH kam. Lifesons Riffing ist wie aus dem Lehrbuch, die Melodieführung etwas lieblich. Eingängig ist das Stück aber allemal. “Making Memories” setzt dagegen den Schwerpunkt auf die vollen Akkorde auf der 12-saitigen Akustikgitarre. “Rivendell” ist eine sanfte und etwas unscheinbare Ballade, die thematisch Tolkiens Werk aufgreift. Bleibt das siebenminütige “In The End”, das per definitionem nur am Schluss stehen kann und alle Stimmungen, alle verwendeten Gitarrensounds sowie alle Gesangslagen noch einmal auffährt.

Unbissig und handzahm

Insgesamt zeigt “Fly By Night” deutlich die Entwicklung von RUSH weg vom direkten Hardrock hin zu progressiveren Sounds. Dabei haben die Kanadier einige schöne, memorable Songs erschaffen, wie den Opener, “By-Tor & The Snow Dog” und den Titeltrack. Gleichzeitig steckt in den Stücken aber auch viel Süße und Weichzeichner (in den Porträts der Bandmitglieder somit ziemlich viel Wahrheit). Auch ist die Gitarrenarbeit häufig noch sehr bodenständig und geht den einfachen Weg und verkörpert noch nicht die Komplexität späterer Werke – wer Alex Lifeson auf der Gitarre nacheifern möchte, findet hier aber reichlich Anschauungsmaterial.

Bleibt die zeitgenössische Kritik, die wenig zimperlich mit RUSH umgehen sollte: “zweitklassig”, “veraltet”, “schrecklich” und “mittelmäßig” sind einige der Attribute, mit denen Songs, Kompositionen, Stimme und Konzept beschrieben wurden und die neben einigem Lob für die neue Ausrichtung und die spielerische Klasse stehen. Der Erfolg gab RUSH indes recht: Eine weitere erfolgreiche Tour im Vorprogramm von KISS und AEROSMITH standen ebenso auf der Habenseite wie 110.000 verkaufte Einheiten des Albums in den ersten Monaten.

Zeitgenössische Kritik und Einordnung

“Fly By Night” ist in der Gesamtheit der Songs sicherlich nicht RUSHs bestes Album. Als sich der Verfasser dieser Zeilen aber vor (in seinem Fall) 35+ Jahren mit den Klassikeralben von RUSH auseinandersetzen wollte, hat er sich “Fly By Night” eben auch zugelegt und irgendwie auch lieben gelernt. Da spielt die Benotung eine untergeordnete Rolle. Ebenso die Querverweise auf andere Bands, die heute nicht mehr so im Mittelpunkt stehen wie vielleicht zur Zeit der Veröffentlichung. “Fly By Night” ist unverkennbar RUSH.

Schon bald ging es für die Kanadier weiter, die noch im selben Jahr ihr drittes Werk “Caress Of Steel” veröffentlichten – an dem sich einmal mehr die Geister scheiden sollten. Dazu bald mehr in einer weiteren Folge in unserer “Blast From The Past”-Serie.