Kiel. Die Kinder- und Jugendpsychotherapeuten Prof. Wolf-Dieter Gerber und Dr. Gabriele Gerber-von Müller leiten das an der Kieler Universität angesiedelte Ausbildungsinstitut NOKI. Hier werden seit 2015 Kinder- und Jugendpsychotherapeuten ausgebildet und jährlich Hunderte Kinder therapiert. Es ist die größte psychotherapeutische Ambulanz für junge Patienten in der Landeshauptstadt. Im Gespräch berichten sie, wie sich der aktuelle Mangel an Therapieplätzen auf die Kinder auswirkt – und warum die Lage bald noch dramatischer wird.

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In der Corona-Pandemie waren viele Kinder und Jugendliche psychisch stark belastet. Ist die Zahl der jungen Patienten mit Therapiebedarf wieder auf das alte Niveau gesunken?

Gerber-von Müller: Nein. Die Isolierung der Kinder und Jugendlichen in der Pandemie wirkt bis heute nach. Wir werden überrannt von Anfragen. Leider haben wir jetzt den 400. Patienten auf der Warteliste. Die Wartezeit für einen Therapieplatz beträgt im Schnitt sieben bis acht Monate, obwohl im NOKI zurzeit 60 Therapeuten und Therapeutinnen tätig sind.

Gerber: Viele niedergelassene Kinder- und Jugendpsychotherapeuten und in Kliniken haben sogar noch längere Wartezeiten.

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Statistisch sind nur zehn Prozent aller Psychotherapeuten auf Kinder und Jugendliche spezialisiert.

Dr. Gabriele Gerber- von -Müller

Kinder- und Jugendpsychotherapeuten

Unter welchen Problemen leiden die Kinder und Jugendlichen, sind sie wirklich psychisch krank?

Gerber-von Müller: Fast alle Kinder, die zu uns kommen, sind definitorisch krank. Viele leiden unter Ängstlichkeit, Depressionen, Zwängen, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsproblemen, sie haben Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Kindern. Eine Ursache ist der Medienkonsum: Jede kleine und große Katastrophe auf der Welt wird durch die Medien transportiert, und die Kinder können all das gar nicht verarbeiten. Die psychische Belastung wirkt sich auch auf ihre körperliche Gesundheit aus, sie leiden unter Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Schlafstörungen. Oftmals verstärken sich die Schwierigkeiten durch die langen Wartezeiten.

Wie erklären Sie sich den Mangel an Therapieplätzen, werden zu wenige Kinder- und Jugendpsychotherapeuten ausgebildet?

Gerber-von Müller: Statistisch sind nur zehn Prozent aller Psychotherapeuten auf Kinder und Jugendliche spezialisiert. Das liegt unter anderem daran, dass der Beruf, was die Organisation angeht, für viele Psychologinnen unattraktiv erscheint: Man kann ein Schulkind nur nachmittags nach der Schule behandeln und braucht die Mitwirkung der Eltern und anderer Bezugspersonen.

Gerber: Die Psychotherapeuten-Ausbildung wurde 2020 reformiert, um sie für die Teilnehmer finanziell attraktiver zu machen. Doch da die Reform nicht finanziert ist, wird der Mangel an Therapieplätzen bald noch dramatischer. Denn im Rahmen der alten Ausbildung werden viele Therapien durch die Ausbildungsambulanzen angeboten. In Kiel lassen sich am NOKI zeitgleich 100 Personen zu Kinder- und Jugendpsychotherapeuten ausbilden. Jährlich betreuen diese circa 400 Patienten, die wöchentlich zur Therapie kommen. Diese Plätze fallen bis 2030 weg. Und es gibt deutschlandweit sehr viele solcher Einrichtungen wie das NOKI. Viele Ausbildungsambulanzen sowohl für Kinder als auch für Erwachsene werden schließen. Und ihre Therapieleistungen können die Träger, die die neue Ausbildung anbieten, gar nicht auffangen.

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Bei langen Wartezeiten chronifizieren sich die Probleme der Kinder, und die Therapie dauert viel länger.

Prof. Wolf-Dieter Gerber

Kinder- und Jugendpsychotherapeut

Laut Kassenärztlicher Vereinigung gibt es in Kiel insgesamt 121 zugelassene Stellen für Psychotherapeuten, davon sind nur 16 spezialisiert auf Kinder und Jugendliche. Wie könnte die Versorgungslücke geschlossen werden?

Gerber-von Müller: Aus meiner Sicht bräuchte es mehr zugelassene Kassensitze für niedergelassene Psychotherapeuten, vor allem im Kinder- und Jugendbereich.

Gerber: Zusätzlich müsste die Vernetzung von Fachleuten verbessert und ein früheres Screening durch Kinderärzte eingeführt werden. Denn nicht jedes Kind, das auffällig ist, muss psychotherapeutisch betreut werden. Ein Beispiel: Wenn ein Kind Trennungsangst zeigt und sich im Kindergarten nicht integrieren lässt, dann müssten Erzieher, Pädagogen und Kinderärzte die Eltern früh dazu anhalten, sich Rat zu holen, um zu verhindern, dass das Kind später in der Schule noch größere Schwierigkeiten bekommt. Oder: Wenn Kinder einnässen oder einkoten, steckt dahinter manchmal kein organisches, sondern ein psychologisches Problem. In solchen Fällen wäre es sinnvoll, einen Psychotherapeuten oder eine Erziehungsberatung aufzusuchen. Manchmal reichen wenige Termine. Je länger Kinder aber unversorgt bleiben, desto größer werden ihre Schwierigkeiten. Wenn man zu lange wartet, chronifizieren sich die Probleme, und die Therapie dauert viel länger.

Lässt sich die Qualität der Therapie in der Ausbildungsambulanz denn vergleichen mit der von erfahrenen Therapeuten?

Gerber-von Müller: Die Auszubildenden haben bereits einen Master in Psychologie oder Pädagogik und absolvieren in der Regel zunächst eine anderthalbjährige intensive theoretische Ausbildung, bevor sie klinisch-praktisch in der Psychiatrie arbeiten. In der Ausbildungsambulanz leisten sie 600 Behandlungsstunden, wovon jede vierte Stunde durch Supervision begleitet wird. Ich würde daher sagen, dass die Qualität dieser Therapien, wie bei den niedergelassenen Psychotherapeutinnen, einen hohen Standard aufweist.

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Sie bieten aktuell wieder ein 14-tägiges Sommercamp für Kinder an, die psychisch schwer belastet sind. Gruppentherapien bedeuten mehr Therapieplätze, denn es können gleichzeitig mehr Kinder behandelt werden. Aber wie wirksam ist das?

Gerber: Das Sommercamp ist eine wissenschaftlich begründete Methode, die in Kiel schon vor 15 Jahren entwickelt wurde. Der wesentliche Faktor ist ein spezifisches Belohnungssystem: Die Kinder bekommen von morgens bis abends sofort positive und negative Konsequenzen. Dieses unmittelbare Belohnungssystem hat sich als neurobiologisch hochwirksam erwiesen – das konnten wir auch durch funktionelle MRT-Aufnahmen belegen.

Gerber-von Müller: Gruppentherapien sind sehr wichtig für viele Kinder. Denn unabhängig von der zugrundeliegenden Störung sind die sozialen Kompetenzen der Kinder häufig zu wenig ausgebildet: Sie ziehen sich zurück, trauen sich nicht, mehr Kontakt mit Gleichaltrigen aufzunehmen. Zusammen mit dem Elterncoaching können wir hier im Camp viel erreichen. Leider bieten nur wenige niedergelassene Therapeuten Gruppentherapien an.

Interview: Karen Schwenke

KN