Berlin wird die Bonner Republik nicht los. Friedrich Merz, der Adenauer-Erhard-Fan, regiert als ihr langer Schatten im Kanzleramt, und nicht weit davon entfernt, am Rand des Berliner Regierungsviertels, findet man seit Kurzem noch so eine Neuauflage der alten Bundesrepu­blik. Eine kulinarische: das „Bundesbüdchen“. Aber was soll das? Bonner Würstchenkur für berlinmüde Politiker? Wie viel Bonn steckt tatsächlich in der Berliner Neueröffnung?

Ein Blick zurück: Das originale „Bundesbüdchen“ war so etwas wie das infarktgefährdete Herz der westdeutschen Demokratie. Seit 1957 wurden hier am Kioskimbiss klassische Blutdrucktreiber verkauft – Zeitungen, Zigaretten und fettige Würste. Erst stand Mutter Christel Rausch hinter der Theke, dann ihr Sohn Jürgen. Ein Einfamilienbetrieb im Bonner Dreieck der Tristesse, zwischen Bundestag, Bundesrat und Bundeskanzleramt gelegen. Symbolischer ging’s nicht. Konrad Adenauer und Herbert Wehner genossen am „Bundesbüdchen“ ihre Brühwürste. Ex-Arbeitsminister Norbert Blüm trank am Tresen volksnah sein Bier. Und der ehemalige Steinewerfer Joschka Fischer kaufte sich hier täglich die „taz“ und alle zwei Jahre sein Asterix-und-Obelix-Heft.

„Das Teil hat 250.000 Euro gekostet, Endstadium!“

1999 zog der Polit-Zirkus dann von Bonn nach Berlin, und mit der Jahrtausendwende stand auch in der politischen Kulinarik ein Stilwechsel an. Nicht mehr am bescheidenen Büdchen wurde dem Parlament der Puls gefühlt; die neuen Hauptstadtjournalisten mussten dafür jetzt in gehobenere Etablissements gehen. 2006 gab Jürgen Rausch den Bonner Verkaufspavillon auf, 2020 eröffnete ein Förderverein ihn an versetzter Stelle neu.

Und heute? Im „Bundesbüdchen“ in Berlin-Mitte zeugt nur der längsovale Tresen von dieser Zeit. Ein Nachbau des Bonner Kiosks. Er steht mitten im Lokal, die leuchtenden Reklametafeln sind noch dran: „Wir haben Originalkacheln verbaut“, sagt Inhaber Jochen Thoss, „das Teil hat 250.000 Euro gekostet, Endstadium!“ Designt hat den Tresen der Ber­liner Architekt Roland Wolff. Es sitzen zwar noch keine Politiker dran wie früher, dafür gleiten an ihm bedeutend agilere und hip gestylte Barmanagerinnen, Sommelièren und Kellner entlang. Auf der Anrichte keine Pommes-Pappe mehr, sondern Porzellanteller der Edelmarke Hering.

Gemüsig und stilvoll: Beispielteller aus dem BundesbüdchenGemüsig und stilvoll: Beispielteller aus dem BundesbüdchenContentley Media

Aber warum eigentlich ein zweites „Bundesbüdchen“ in Berlin? Ist Jochen Thoss etwa Bonner Urgestein? „Nö“, antwortet er, „aber ich hab vor vielen Jahren einen Beitrag über das Büdchen im WDR gesehen. Das hat mich fasziniert. Bodenständig war das, wie ich.“ Und wenn man in der übersättigten Berliner Gastroszene ein deutsches Fine-Dining-Restaurant eröffnen wolle, so meint Thoss, brauche man nun mal eine gute Story. Deshalb habe er sich die Markenrechte am „Bundesbüdchen“ gesichert. Mit dem Förderverein in Bonn pflege er engen Kontakt. Thoss will dort großspendendes Mitglied werden.

Ihn verbindet aber noch mehr mit dem Bonner Lebensgefühl. Auch Jochen Thoss ist ein Erbe der alten BRD. Wie Friedrich Merz stammt er aus einer nordrhein-westfälischen Juristendynastie, der Vater Richter, was Sohn Jochen nie werden wollte. Er wählte den Weg der kleinen Rebellion und lernte zunächst das Kochen – seine erste große Liebe, die trotz einiger Scheidungen bis heute hält. Dann wurde er Maschinenschlosser und Bundesligist im Schachspielen. Mit Mitte zwanzig machte sich Thoss schließlich selbständig und gründete Anfang der Achtzigerjahre als einer der Pioniere in Deutschland ein millionenschweres Softwareunternehmen. Dort kommt sein Geld her. „Damals war Goldgräberstimmung,“ sagt er, „anders als heute – ohne überflüssige Bürokratie.“

Bill Gates wollte ein Stück Mauer haben

Wie einen Colt zückt Thoss plötzlich sein Handy. Auf dem Bildschirm zeigt er einen seiner Kontakte: Bill Gates. „Bill und ich, wir sind seit über 40 Jahren Freunde“, sagt er grinsend. Dann erzählt er von der Nacht, in der die Berliner Mauer fiel und er gerade mit Gates und dem berühmten Softwareentwickler Peter Norton in Las Vegas beim Black-Jack-Spielen saß. „Ich musste meinen Mitarbeiter in Berlin zur Mauer schicken – Bill und Peter wollten ein Stück davon haben.“

Ist der Inhaber des neuen „Bundesbüdchens“ ein wirtschaftsliberaler Schwärmer? Oder ein Wertkonserva­tiver? Wünscht er sich die alte Zeit zurück? Bonn statt Berlin? „Quatsch! Auf keinen Fall,“ sagt Thoss, „stehen bleiben kann ich nicht.“ Die „Bild“-Reklame an seinem Büdchen würde er jederzeit ge­gen die der „taz“ austauschen. Und überhaupt: Thoss macht zwar kein Hehl daraus, dass er mit dem „Bundesbüdchen“ wie mit jedem seiner Investments Ren­dite machen will – „aber so, dass alle was davon haben“. Sein Softwareimperium verkaufte er Anfang der Nullerjahre an seine Mitarbeiter. Seitdem folgt er seiner Liebe fürs Kochen, investiert in Restaurants, betreibt mit Fernsehkoch Stefan Marquard ein Gourmet-Catering.

Koch Johann Maier ist das kulinarische Powerhouse im Berliner Büdchen. In wenigen Jahren soll er es auch als Inhaber übernehmen.Koch Johann Maier ist das kulinarische Powerhouse im Berliner Büdchen. In wenigen Jahren soll er es auch als Inhaber übernehmen.Contentley Media

Dann kommt endlich der junge Koch Johann Maier an den Tisch. Thoss nennt ihn niedlich bewundernd „den Hans“. Maier ist das kulinarische Powerhouse im Berliner Büdchen. In wenigen Jahren soll er es allerdings auch als Inhaber übernehmen – womöglich gemeinsam mit anderen Teammitgliedern. Ein Kollektiv? Mal sehen. Zumindest soll es so gerecht zugehen, wie es in Bonn zu besten Zeiten versucht wurde: bescheiden Balance halten zwischen Angestellten und Unternehmern, zwischen SPD und FDP. Ein sozialliberaler Kitt, der gegenwärtig nicht nur der Politik fehlt.

Jetzt aber genug Bonn! Eigentlich passt Johann Maier so gar nicht ins Schema. Seine Küche genauso wenig. Der Mann mit Schnauzbart, einer starken Stirn und den lieben, umschauenden Augen kommt nämlich aus Bayern. Seine süddeutsche Küche schmeckt nicht nach speckigem Bonner Regierungsbüdchen; man sähe sie eher im Instagram-Feed des bayrischen Gaumenkönigs Markus Söder.

„Man muss die alten Rezepte von der Pike auf lernen“

Vermutlich würde diesem aber zu viel Hauptstadt in Maiers Küche stecken: Allgäuer Käsespätzle mit weißem Kimchi und Apfelmus? Berliner Experimentierfetisch! Dabei unternimmt Maier nicht mal den abgegriffenen Versuch, die deutsche Küche trendbewusst aufzuhübschen. Vielmehr kitzelt er aus ihren Rezepten das geschmackliche Optimum heraus. Sehr oft mit Fermentiertem, was – na gut – schon ziemlich Berlin ist. Das echte Geheimnis liegt für den Koch aber in der Perfektion seines Handwerks: „Ich koche, was ich am besten kann.“

Können kann Maier seine Küche, weil er mit ihr aufgewachsen ist. Und weil er die feinen Unterschiede zwischen gut-bürgerlich und exzellent im Wiener Hotelrestaurant „Sacher“ gelernt hat. Kaiserlicher Tafelspitz, königliches Saftgulasch und die wohl weltgrößte Palette an Mehlspeisen. „Man muss die alten Rezepte von der Pike auf lernen,“ sagt Maier, „sonst kann man sie nur mittelmäßig kochen.“ Vom „Sacher“ in Wien ging es für ihn ins Berliner Exil, zum öster­reichischen Spitzenrestaurant „Cordo Bar“, wo er Jochen Thoss zum ersten Mal begegnete. Nachdem die „Cordo Bar“ schließen musste, wurde Maier erst Kantinenkoch in einer Waldorfschule, bevor er zum Küchenchef des Schöneberger Hinterhofjuwels „Oh, Panama“ aufstieg. Dann warb ihn Thoss fürs „Bundesbüdchen“ ab. Das war Ende 2023.

Das ist nicht bräsiges Bonn, das ist Habsburg!

Was Maier und Thoss seitdem verbindet? Die Ernsthaftigkeit, mit der sie über handwerkliche Raffinesse nachdenken. Und der Wunsch, aus dem „Bundesbüdchen“ eine Institution zu machen, die der Berliner Beliebigkeit widersteht. Keine überschäumende Spekulation also, wie man sie zurzeit oft bei scheinluxuriösen Neueröffnungen vorfindet. Oder kulturpessimistisch gesagt: Schlechte Schnitzel und Austernkitsch gibt es genug – regionale Biokultur heißt nicht, dass sie auch Geschmack hat.

Johann Maier setzt auf seine eigene Kreislaufwirtschaft. Wenn es beispielsweise zu Mittag Ochsenschwanzsuppe gibt, werden abends die schmackhaften Reste in Ravioli verwandelt, mit Pepe­roni und Stracciatella verfeinert. Ähnlich beim Saftgulasch mit böhmischen Knödeln – Maiers Spezialität. Dafür ver­wendet er ausschließlich das zarte Fleisch aus der Rinderwade, schabt es aufwendig zwischen Knochen und Sehnen heraus. Viel Arbeit mache das, sagt er, aber geschmacklich sei es ein nahezu unbekannter Zaubertrick. „Und die Ware ist günstiger,“ fügt Unternehmer Thoss hinzu. „Aber trotzdem Endstadium!“ So könnten die Preise bezahlbar und die Löhne hoch gehalten werden. Klingt das nicht wieder nach dem alten und guten Bonn?

Let’s try! Der Vorhang zur waldgrün gekachelten Schauküche geht auf, die Tische füllen sich an diesem Dienstagabend langsam, aber beständig. Und? Wie schmeckt Bonn in Berlin? Unerwartet fein. Der erfrischende Saibling, der in limettensaurer Buttermilch und fermentiertem Rettich geschmacklich komplett zu sich selbst kommt. Die geschlagene Butter, in deren Kratern sich kleine, aber deftig reife Liebstöckelseen sammeln. Dann der rosa Kalbstafelspitz auf Bri­oche. Das zergehend zarte Rinderwadengulasch. Und zum Schluss die krokantummantelten Eismarillenknödel. Das ist nicht bräsiges Bonn, das ist Habsburg! Jedes neue Arrangement von vertrauten Rezepten eine ergänzende Silbe mit Sinn.

Koch Maier verbeugt sich zu jedem der servierten Gänge wie ein Theaterschauspieler vor seinem Publikum. Seine Arme strecken sich lang zum Fischgrätenparkett, in seinen Augen glänzt erschöpft die Begeisterung. Von einigen Tischen bekommt er Applaus – zu Recht. Und wer weiß, vielleicht sitzen im Berliner „Bundesbüdchen“ bald Merz, Klingbeil und Bas beim Mittagstisch und überlegen: Kann es dieses gute Bonn nicht auch in Berlin geben? Nur besser?