Liebe Leserin, lieber Leser,

in
der Kunsthalle, Altbau, erstes Obergeschoss, steht eine elende und
trostlose Figur. Zwischen Goldrahmen und Prunkmotiven, zwischen
Gemälden von Rembrandt und Rubens, erhebt sich ihr gräulicher
Körper, der fast vollständig unter einem fleckigen Tuch versteckt
ist. Diese Figur heißt Arcangelo
II
,
doch nichts an ihr erinnert an einen Erzengel, also einen Überbringer
göttlicher Botschaften oder einen Anführer himmlischer Heerscharen.

Statt
auf einem steinernen Sockel steht dieser Engel bloß auf einer alten
Holzkiste. Sein Kopf ist nach vorn geneigt, wie in einer Büßergeste.
Und statt stolz zu schreiten, schiebt er zaghaft den rechten Fuß vor
den linken. Beide Füße sind nackt und schrundig, sie stehen so nah
beieinander, dass man fürchtet, beim nächsten Schritt müsste der
Engel stolpern und von seiner Kiste stürzen.

Das
Werk sei „gleichzeitig archaisch und zeitgenössisch“, sagt
Alexander Klar, der Direktor der Kunsthalle, über Arcangelo
II.
Geschaffen wurde es im Jahr 2020 von der belgischen Künstlerin
Berlinde De Bruyckere. Bereits ein Jahr später kam es in die
Kunsthalle, erworben mithilfe der Stiftung Hamburger Kunstsammlungen.
Da steht es nun und überrascht alle, die eine solche Erscheinung
zwischen den Alten Meistern nicht erwartet hatten.

Diesen
Sommer ist auch die erste Ausstellung von Berlinde De Bruyckere in
Hamburg zu sehen, im Ernst
Barlach Haus
 im Jenischpark. Lift
Not the Painted Veil lautet
der Titel der Ausstellung, ein Zitat aus einem Gedicht des britischen
Romantikers Percy
Bysshe Shelley (des Ehemanns von Mary Shelley, die Frankenstein
schrieb).
In der Übersetzung von Günter Plessow beginnt das Gedicht so: „Heb
nicht den bunten Schleier, den, die leben, das Leben nennen“. Also –
es wird düster.

© ZON

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Berlinde De Bruyckere besuchte das Ernst Barlach Haus, als sie in Hamburg war, um ihren Arcangelo II in der Kunsthalle aufzubauen. Sie empfand das als inspirierend, schreibt
sie im Begleitheft zur Ausstellung. Auch
der Bildhauer
Barlach schuf elende Figuren, deren Körper unter Schleiern und
Tüchern verborgen sind, etwa die Verhüllte
Bettlerin
(1919).

In
der Gegenüberstellung kann man gut nachvollziehen, was den Künstler
und die Künstlerin verbindet, auch wenn beide mit ganz verschiedenen
Materialien arbeiten. Barlach schnitt seine Bettlerin in
Nussbaumholz, De Bruyckere arbeitet mit Wachs, Linoleum, Eisen,
Tierfellen und Epoxidharz, das ist ein Kunststoff.

Im
Ernst Barlach Haus begegnet uns auch der Erzengel aus der Kunsthalle
wieder. Und tatsächlich, jetzt ist er gestürzt: Unter dem Titel
Liggende
– Arcangelo III (2023)
liegt er mit der Brust auf dem Boden, nur die nackten Füße ragen
leblos unter dem Tuch hervor.

Die
Ausstellung Lift
Not the Painted Veil
wird wohl niemanden heiter stimmen. Aber wenn Sie eine Beschäftigung
für einen dieser grauen, wolkenverhangenen Tage suchen, dann lohnt
sich vielleicht ein Ausflug in den Jenischpark.

Ich wünsche Ihnen ein
erholsames Wochenende,

Ihr
Oskar Piegsa

PS:
Wo wir gerade über deprimierende Themen sprechen: Unser
Gastrokritiker ist im Urlaub! Also, es sei ihm gegönnt. Aber heute
und in den kommenden zwei Wochen müssen wir leider auf die
Restaurantbesprechungen verzichten, die sonst immer freitags in
diesem Newsletter erscheinen.

WAS HEUTE WICHTIG IST

© Niklas Graeber/​dpa

Heute
Abend um 20.34 Uhr soll der vorerst letzte Zug den Hauptbahnhof
verlassen, der auf direktem Wege nach Berlin fährt. Danach ist die
Bahnstrecke Hamburg-Berlin neun Monate
lang voll gesperrt.
Die rund 280
Kilometer lange Trasse soll bis zum 30. April nächsten Jahres
generalsaniert werden. Fernzüge werden über Lüneburg und Stendal
umgeleitet. Noch bis Montag bleibt zudem zwischen Altona und
Hauptbahnhof die Bahn- und S-Bahn-Strecke über Dammtor gesperrt.
Regionalzüge nach Kiel und Flensburg beginnen und enden in Altona.
Fernzüge aus Berlin, Hannover und Bremen fahren nicht bis Altona.

Zwei
Monate nach dem Messerangriff am Hauptbahnhof hat der Senat eine
Strategie gegen schwere Gewalttaten
durch psychisch erkrankte Menschen

beschlossen. Mithilfe des „Hamburger Netzwerks für
personenbezogenes Risikomanagement“ wollen Innen-, Sozial- und
Justizbehörde besser als bisher Informationen austauschen. Auf diese
Weise soll im Umgang mit psychisch Kranken eine mögliche
Fremdgefährdung früher erkannt werden. Weitere Maßnahmen sollen
die Versorgung Erkrankter verbessern, Fragen und Antworten lesen
Sie dazu hier (Z+)
.

Die
Schulbehörde setzt ihr Programm der
Lernferien fort.
Dafür kommen
Schülerinnen und Schüler freiwillig in den Ferien zusammen, um in
kleinen Gruppen das Gelernte zu vertiefen und Rückstände
aufzuholen. Man spüre, „mit welchem Eifer und welcher Freude die
Kinder bei der Sache sind“, sagte Schulsenatorin Ksenija Bekeris
(SPD) nach einem Besuch des Programms in der Grundschule
Mümmelmannsberg. Die Lernferien entstanden 2020 als Reaktion auf die
Coronapandemie. Nach dem Ende einer Bundesförderung finanziert die
Schulbehörde das Programm seit 2023 selbst. In der Regel lernen
dabei um die neun Kinder gemeinsam in einwöchigen Kursen.

In aller Kürze

• Die Zahl der
Arbeitslosen in Hamburg
ist im Juli auf
95.018 Menschen beziehungsweise 8,4 Prozent gewachsen. Vor einem Jahr
lag die Quote bei 8,1 Prozent •
Der Deutsche Wetterdienst
will in Zukunft tagesaktuelle Prognosen
zum Pollenflug
bieten. Erste
Messstationen wurden unter anderem in Hamburg in Betrieb genommen •
Aus den Polizeimeldungen: In Ottensen haben
ein Mann und eine Frau offenbar mit
einer Druckluftwaffe auf Bauarbeiter geschossen.
Und: Einen
Monat nach einem Messerangriff in St. Georg hat die Polizei einen
Verdächtigen verhaftet.

THEMA DES TAGES

© Marcus Brandt/​dpa

Biete 140 Millionen
Euro für 86.500 Quadratmeter Brache

Die Verhandlungen um
das Holstenareal gehen weiter. Auf der Brachfläche könnten günstige
Wohnungen entstehen. Nur: Lassen sich die Gläubiger auf den Verkauf
ein? Der Frage geht ZEIT:Hamburg-Autor Christoph Twickel nach; lesen
Sie hier einen Auszug aus seinem Artikel.

Wie
lange das städtische Wohnungsunternehmen Saga darauf wartet, eine
der prominentesten Brachflächen Hamburgs endlich mit Wohnungen
bebauen zu dürfen, verriet der Vorstand Thomas Krebs am vergangenen
Mittwoch bei der Bilanzpressekonferenz: „Wir sind seit zehn Jahren
mit dem Holstenquartier befasst“, sagte Krebs. „Das ist jetzt der
dritte Anlauf.“

Schon
seit vier Jahren passiert auf dem Areal der ehemaligen
Holsten-Brauerei, 86.500 Quadratmeter groß, gar nichts mehr. Der
bisherige Eigentümer, der Immobilienkonzern Adler, hatte
versprochen, hier 1.300 Wohnungen zu bauen – doch nach einem
langwierigen Teilabriss der Brauereigebäude blieb das Vorhaben
stehen. Adler hat hohe Schulden angehäuft, und um sie zurückzahlen
zu können, will der Konzern das Holstenquartier verkaufen. Seit zwei
Jahren ist das Grundstück auf dem Markt. Nun endlich scheint ein
Käufer gefunden zu sein: Mitte Juli gab die Saga bekannt, dass sie
gemeinsam mit dem privaten Wohnungsunternehmen Quantum „die
Exklusivität zum Kauf des Holstenareals in Hamburg-Altona erhalten“
habe.

Das
bedeutet: Der angeschlagene Immobilienkonzern Adler verhandelt nur
noch mit dem Saga-Quantum-Konsortium. Alle anderen Bieter, darunter
ein Konsortium um den Hamburger Großinvestor Dieter Becken, sind aus
dem Rennen. Das bedeutet aber nicht, dass der Verkauf des
Holstenquartiers schon besiegelt ist. „Erst mal haben wir nur
Exklusivität“, sagt der Saga-Vorstand Thomas Krebs. „Mehr ist es
ja nicht.“ Man verhandele jetzt „die erforderlichen Details“.

Wie
unter diesen Vorzeichen das Holstenareal in Zukunft aussehen könnte,
lesen Sie
weiter in der ungekürzten Fassung auf zeit.de

DER SATZ

© Georg Wendt/​dpa

„Disarstar
wolle Künstler sein, sagt er, nicht Entertainer. Das heißt für
ihn: keine Rolle zu spielen. Aufrichtig zu sein. Keine Angst zu
haben, auch nicht vor der Peinlichkeit.“

Beim
morgigen Spektrum-Festival ist der Hamburger Rapper Disarstar einer
der Headliner. Zehn Jahre lang hat er auf dieses Ziel hingearbeitet.
Damals erschien sein erstes Album, und wir haben ihn getroffen. Lesen
Sie den Artikel über die Begegnung hier

DARAUF KÖNNEN SIE SICH FREUEN

Apropos
Jenischpark, wir hätten da gleich noch eine Empfehlung! Dort ist
nämlich auch die Ausstellung „Parkomania“ zu sehen, sie zeigt die Entstehung und Entwicklung des beliebten
Hamburger Parks, der zu dem ab 1785 entstandenen Landsitz von Caspar
Jenisch gehörte. Angelegt wurde dieser als Mischung aus Nutzgarten
und englischem Landschaftsgarten. Heute handelt es sich um einen
reinen Landschaftspark, der allen Menschen offensteht – und die
einstige Sommerresidenz wurde zu einem Museum, dem Jenisch Haus.

„Parkomania.
Unerzählte Geschichten aus dem Jenisch Park“, bis 6.9.; Jenisch
Haus, Baron-Voght-Straße 50; Mo, Mi–So, 11–18 Uhr, Di
geschlossen;
das Begleitprogramm finden Sie hier 

MEINE STADT

Gefeierte Vielfalt © Elke Ribeaucourt

HAMBURGER SCHNACK

Der
Wochenmarkt auf dem Spritzenplatz in Ottensen: Eine Gruppe Kitakinder
übt das Einkaufen. Jedes Kind darf einen Apfel am Obststand kaufen.
Ein Mädchen kommt aufgeregt zurück in die Gruppe und ruft: „Mein
Apfel heißt Elsa!“ Antwortet eine Freundin: „Der heißt Elstar.“

Gehört
von Norbert Wiest-Hohrenk

Das war
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