Am Ende wird es im Gewölbe des Horster Schloss im Norden Gelsenkirchens noch einmal kurz still. „Jetzt wird’s schlimm für dich, Lars“, sagt die SPD-Oberbürgermeisterkandidatin Andrea Henze. Dann überreicht sie dem Bundesfinanzminister einen sechsseitigen Forderungskatalog und einen Schalke-Schal.
Klingbeil gibt zu, Bayern-Fan zu sein, aber sein Heimatverein trage auch die Farben Blau und Weiß. Und so legt er sich den Schal um den Hals. Auch diesen Moment übersteht er, wie alle an diesem Abend, ohne auch nur ein bisschen in Bedrängnis zu kommen. „Ich hatte es hier deutlich kritischer erwartet“, gab der Finanzminister im Anschluss auf Tagesspiegel-Nachfrage zu.
Nach einer intensiven Haushaltswoche in Berlin ist der Vizekanzler am Freitag für einen halben Tag nach Nordrhein-Westfalen gereist. Begonnen hat er am Mittag mit Blasmusik und einem Rundgang in teils strömendem Regen auf der Cranger Kirmes in Herne. Es ist die größte in NRW und Klingbeil darf sie eröffnen.
„Wir brauchen mehr Cranger in Deutschland“, rief er bei seinem Grußwort ins Festzelt, das erst Maite Kelly im Anschluss zum Beben brachte. Danach erhielt er ein Lebkuchenherz mit der Aufschrift „Stolz auf Ruhr“ vom Herner Oberbürgermeinst, spricht mit Ausstellern, Verkäuferinnen und der Kirmeskönigin. Auch ein paar Runden Riesenrad ist Klingbeil gefahren.
Da wird sehr viel fürs Ruhrgebiet dabei sein.
Lars Klingbeil, Finanzminister und SPD-Chef
In Gelsenkirchen stellte sich Lars Klingbeil am Abend dann für exakt 35 Minuten den Fragen von Bürgerinnen und Bürgern. Das Gewölbe im Schloss Horst ist gut gefüllt, 50 Leute sitzen, ungefähr genauso viele stehen. Organisiert ist die „Aufstiegskonferenz“ zwar von der SPD, die Mehrheit der Anwesenheit ist aber nicht Mitglied der Partei. Vor dem Gebäude begrüßen ein paar AfD-Anhänger die Anwesenden mit Plakaten. Am Gespräch nehmen sie nicht teil.
Die Ausgangslage war weder für den SPD-Vorsitzenden noch den Finanzminister Lars Klingbeil entspannt.
Bei der Bundestagswahl erzielte die SPD in Gelsenkirchen mit 24,1 Prozent zwar ein deutlich besseres Ergebnis als im Bundesschnitt (16,4 Prozent). Stärkste Kraft wurde hier jedoch die AfD. Auch in der ehemaligen SPD-Hochburg haben sich besonders Arbeiterinnen und Arbeiter von den Sozialdemokraten abgewendet. Bei der Kommunalwahl droht sie erneut tausende Mandate an die gesichert rechtsextreme Partei zu verlieren.
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Auch Klingbeil persönlich sitzt alles andere als fest im Sattel. Bei der Wahl zum Parteivorsitz Ende Juni wurde er mit 64,9 Prozent wiedergewählt – es war das zweitschlechteste Ergebnis jemals. Als Finanzminister hat er in dieser Woche zwar nach weniger als drei Monaten im Amt seinen zweiten Haushaltsentwurf vorgelegt. In der Finanzplanung bis 2029 klafft allerdings eine Lücke von über 172 Milliarden Euro – trotz neuer Schulden von rund einer Billion Euro.
All das ist weit weg an diesem Freitagabend im Ruhrpott. „Wir können über alles reden, nur nicht länger als eine Stunde“, kündigt der Moderator mit S04-Schal um den Hals zum Auftakt an. Zweieinhalb Stunden später spielt Schalke gegen Hertha. Den Saisonauftakt will hier keiner verpassen, auch Klingbeil fährt noch ins Stadion.
Grußwort des Bundesfinanzministers bei der Kirmes: „Wir brauchen mehr Cranger“
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Es ist ein Wohlfühl-Termin für den Finanzminister. Das gigantische Haushaltsloch, Trumps Zölle und die Folgen für die deutsche Wirtschaft, der Fall Brosius-Gersdorf und selbst die Kriege in der Ukraine und Gaza sind zu keiner Zeit Thema. Stattdessen drehen sich die Anliegen vor allem um Kommunalfinanzen, Zuwanderung und Ungleichheit.
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Der erste Fragesteller, ein mittelalter Mann, will wissen, ob man nicht einen „Ruhr-Soli“ einführen könne, um die klammen Kassen der Kommunen im Ruhrgebiet zu füllen. Vorbild soll der Solidaritätszuschlag sein, mit dem bis heute die neuen Bundesländer strukturell unterstützt werden.
Der schmeißt uns jeden Tag Knüppel zwischen die Beine.
Eine Frau ärgert sich in einem Votum über CSU-Chef Markus Söder
„Es ist aktuell nichts dazu geplant“, antwortet Klingbeil: „Das hat es nicht in den Koalitionsvertrag geschafft“. Stattdessen verweist er auf das Infrastruktur-Sondervermögen und den Bundesanteil von 300 Milliarden, den er in den sozialen Wohnungsbau, Schulen und Straßen investieren will. „Da wird sehr viel fürs Ruhrgebiet dabei sein.“
Auch die Länder sollen 100 Milliarden erhalten. Klingbeil wollte dafür eine Quote von mindestens 60 Prozent für die Kommunen. „Dagegen gab es ein Sturmlaufen der 16 Ministerpräsidenten“, sagt der SPD-Chef. Nun können sie frei über die Verwendung der Mittel entscheiden. Klingbeil nahm daher NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst in die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass das Geld bei den Kommunen ankomme.
Wüst ist nicht der einzige Landeschef, dessen Name an diesem Abend fällt. Eine Fragestellerin schießt gegen den Bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder und seine Ankündigung, den Länderfinanzausgleich aufzukündigen. „Der schmeißt uns jeden Tag Knüppel zwischen die Beine“, sagt die Frau verärgert. Ob Klingbeil nicht da etwas machen könne.
„Ich übernehme echt viel Verantwortung als SPD-Chef, aber nicht für Markus Söder“, antwortet der Vizekanzler. Lautes Lachen im Saal. NRW erhielt letztes Jahr rund 850 Millionen aus dem Länderfinanzausgleich, Bayern kostete er mit fast 9,8 Milliarden Euro am meisten.
Später geht es um Zuwanderung. Der SPD-Fraktionsvorsitzende in Gelsenkirchen spricht von „immensen Problemen“ durch Armutszuwanderung von Rumänen und Bulgaren. „Auch deshalb ist der AfD-Anteil hier so hoch“, sagt er und erhält dafür viel Beifall. „Wir brauchen hier wirklich Unterstützung, sonst kippt es hier“. Konkret fordert er nicht nur Geld, sondern auch, dass andere Städte Gelsenkirchen und Duisburg Zugewanderte wieder abnehmen.
Klingbeil geht nur indirekt darauf ein und spricht über Sozialmissbrauch, konkret über mafiöse Strukturen im Bürgergeldsystem, gegen die seine Co-Parteivorsitzende und Arbeitsministerin Bärbel Bas vorgehen wolle. Dann verallgemeinert er das Problem und referiert Maßnahmen gegen Cum-Cum-Betrügereien und Schwarzarbeit. „Wenn wir diese Probleme nicht lösen, kommen die mit der Kettensäge.“
Daraufhin meldet sich die Geschäftsführerin des Jobcenters Gelsenkirchen zu Wort. Man habe sich personell aufgestellt, speziell für Menschen aus Rumänien und Bulgarien. Zudem warnt sie vor einer Erhöhung der Sanktionen beim Bürgergeld und zerschlägt Hoffnungen, dadurch viel Geld im Haushalt einsparen zu können. Stattdessen müsse das System einfacher und die Finanzierung der Jobcenter gesichert werden.
Eine Frage stellt sie nicht. Klingbeil nutzt die Gelegenheit trotzdem, um seine Position nochmal klarzumachen. Er habe nicht nur ein Gerechtigkeitsempfinden nach oben, sondern auch nach unten. „Wo missbraucht wird, müssen wir genau hingucken.“ Gegebenenfalls müsse man auch den Druck erhöhen.
Großes Einsparpotenzial beim Bürgergeld sieht er aber nicht. „Viele in Berlin schon“, sagt er in Richtung des eigenen Koalitionspartners. Zudem gebe es nur wenige tausend Totalverweigerer. Der eigentliche „Skandal“ sei, dass hunderttausende alleinerziehende Frauen im Bürgergeld arbeiten, aber nicht genug verdienen würden. Daher müsse man vor allem weiter für höhere Löhne kämpfen.
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Um Punkt 19 Uhr wird die Fragerunde dann so abrupt durch den Moderator beendet, dass selbst Klingbeil davon überrascht wird und noch einmal das Wort ergreift. „Es war ein bisschen kürzer heute, ich komme gerne nochmal wieder.“
Nach Geschenken, Fotos, Dankesworten wird das Buffet eröffnet. Ruhrpott-untypisch gibt es Nudeln mit Gemüse und Hühnchen. Dann geht es für die Mehrheit und Klingbeil Richtung Stadion. Vielleicht erreichen ihn dort auch kritischere Worte.