In der Ukraine erlebt der Buchmarkt einen erstaunlichen Aufschwung. Neue Buchhandlungen entstehen, Verlage expandieren, Klassiker erscheinen neu: Mitten im Krieg wächst das Interesse an ukrainischer Sprache und Identität.

Lesen, während die Bomben fallen: Eine Frau hat in einer Metrostation in Charkiw Zuflucht gesucht – und liest. (11. April 2022) Lesen, während die Bomben fallen: Eine Frau hat in einer Metrostation in Charkiw Zuflucht gesucht – und liest. (11. April 2022)

Alkis Konstantinidis / Reuters

Zwischen Bücherwand, Kunstwerken und hängenden Blumenkübeln verbreiten gemütliche Sessel Wohnzimmerflair. Bis um 21 Uhr wird zur Lektüre Kaffee oder Wein gereicht. «Es gibt in Kiew gerade sehr viele dieser Buchhandlungen mit Café», sagt die IT-Spezialistin Mariana Fuhalewich, die es sich im «Buchlöwen» im Kiewer Szenequartier Podil gemütlich gemacht hat. Ihre Kollegin Darina Chrapach bittet sie, ein Foto von sich im Sessel zu machen. «Hier habe ich viele schöne Stunden verbracht.» Die Buchhandlungen dienen nicht allein zum Stöbern: Während der Stromausfälle werden sie zu Zufluchtsorten für Nachbarn, Lesende und Schriftsteller. Und sie sind Zeichen eines erstaunlichen Aufschwungs mitten im Krieg.

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Russlands Krieg richtet sich nicht nur gegen die Ukraine als Territorium, sondern auch gegen seine Kultur, Sprache, Literatur. Wo russische Truppen einmarschieren, verstecken die Menschen ihre Bücher, bevor sie von den Besetzern vernichtet und durch Propagandawerke aus Moskau ersetzt werden. «Sie tauschen die Bücher sofort nach der Besetzung aus», erklärt Juri Belousow, der die Abteilung für Kriegsverbrechen der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft leitet.

Rund 800 ukrainische Bibliotheken und Buchhandlungen wurden seit 2022 zerstört. Im Mai 2024 traf es die grösste Druckerei der Ukraine: Beim Raketenangriff auf die Charkiwer Factor Druk starben sieben Mitarbeiter. Mit den Maschinen verbrannten auch die druckfrischen Neuerscheinungen vieler Verlage, eine Woche vor der wichtigsten Buchmesse des Landes.

Auch während der jüngsten Angriffswelle kamen ukrainische Literaturbetriebe unter Beschuss: In Kiew wurde Anfang Juli ein Lager des Schriftstellerverbands PEN Ukraine in Mitleidenschaft gezogen. Dabei wurden Bücher des Projekts «Unzerstörbare Bibliotheken» zerstört, das englische und zweisprachige Bücher für 250 Bibliotheken in 17 Regionen des Landes sammelt. In derselben Nacht wurde das Lager des Verlags Nasch Format (Unser Format) teilweise zerstört und ein Teil der Bücher unwiederbringlich vernichtet. Die Verlagsleitung schreibt: «Wir wissen, wofür wir kämpfen. Wir publizieren Bücher, die Kraft, kritisches Denken und Würde verleihen – all das, was Russland am meisten fürchtet.»

Neue Buchhandlungen, mehr Umsatz

Dennoch trotzt die ukrainische Literatur der Zerstörung und erlebt gar eine Renaissance: Inmitten von Luftalarm, Raketenterror und Kriegsalltag wächst der Buchmarkt. Laut dem Ukrainischen Buchinstitut stiegen die Umsätze 2024 um 31 Prozent. Die Zahl der aktiven Verlage kletterte von 300 auf 350. «Seit Beginn der Invasion wächst der Sektor sehr schnell», sagt der Ökonom Hlib Wischlinski vom Centre for Economic Strategy. «Dass Menschen in Kriegszeiten mehr für Bücher ausgeben würden, war nicht zu erwarten.»

Der Verleger und Geschäftsmann Serhi Polituchi steht in seinem Verlagshaus in Charkiw, das bei einem russischen Raketenangriff zerstört wurde. (26. Mai 2024) Der Verleger und Geschäftsmann Serhi Polituchi steht in seinem Verlagshaus in Charkiw, das bei einem russischen Raketenangriff zerstört wurde. (26. Mai 2024)

Valentyn Ogirenko / Reuters

Der Trend wird an Messen wie dem Bucharsenal in Kiew oder der Open-Air-Messe Buchland konkret sichtbar. Auf Letzterer wurden an vier Tagen 90 000 Bücher verkauft. Buchhandelsketten expandieren, wie Zahlen des Ukrainischen Buchinstituts zeigen. Besonders gefragt ist ukrainische Literatur – vom Klassiker über neue Kriegspoesie bis hin zum Fantasy-Roman. Stammte 2021 noch jedes fünfte Buch im Land von einem ukrainischen Autor oder einer ukrainischen Autorin, waren es 2023 schon drei von fünf.

Mitten im Krieg eröffnen unabhängige Buchhandlungen in Kiew, Lwiw und Odessa. So auch der «Buchlöwe» im August 2022 im Kiewer Szeneviertel Podil, als dieses nach Kriegsbeginn wie leergefegt war. Gefragt sind neben Büchern über ukrainische Geschichte und Kunst auch Übersetzungen internationaler Literatur und Ratgeber zum Thema Psychologie. Titel der jüngsten Kriegsliteratur und -poesie verkaufen sich gut, etwa die Texte der dichtenden Sanitäterin und Drohnenpilotin Jarina Chornohuz oder die Kriegstagebücher des kämpfenden Schriftstellers Artem Tschech. Auch Reportagen und Fotobücher über die besetzten Gebiete und unwiederbringlich zerstörten Städte wie Mariupol sind beliebt.

Mittlerweile landeten immer mehr ukrainische Autoren unter den monatlichen Top Ten, sagt Katerina Iwanowa, Mitgründerin der Buchhandlung. «Wir haben an den ukrainischen Buchmarkt geglaubt und daran, dass genügend Bücher erscheinen werden, um die Regale zu füllen.» Sie ist sicher: Die Eröffnung zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt hat anderen Mut gemacht.

Die Buchhandlung Buchlöwe im Kiewer Szeneviertel Podil lädt nicht nur zum gemütlichen Stöbern ein, sondern ist auch Café und Zufluchtsort bei Stromausfällen. Die Buchhandlung Buchlöwe im Kiewer Szeneviertel Podil lädt nicht nur zum gemütlichen Stöbern ein, sondern ist auch Café und Zufluchtsort bei Stromausfällen.

Kristina Thomas

Renaissance der ukrainischen Klassiker«Wir haben an den ukrainischen Buchmarkt geglaubt»: Katerina Iwanowa hat die Buchhandlung Buchlöwe in Kiew mitgegründet. «Wir haben an den ukrainischen Buchmarkt geglaubt»: Katerina Iwanowa hat die Buchhandlung Buchlöwe in Kiew mitgegründet.

PD

Bemerkenswert ist die Renaissance, die Klassiker erleben: «Schöne Sammelbände ukrainischer Klassiker sind wahre Goldesel», erklärt die Buchhändlerin. Ukrainische Literatur des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts war in der Sowjetunion jahrzehntelang unterdrückt oder gar verboten. Anfang der 1930er Jahre liess Josef Stalin die blühende ukrainische Kultur brutal dezimieren. Fast dreihundert ukrainische Schriftsteller wurden erschossen, viele Kulturschaffende landeten im Gulag. In der Ukraine spreche man heute von der «erschossenen Renaissance», erklärte der ukrainische Übersetzer und Psychoanalytiker Jurko Prochasko gegenüber dieser Zeitung. Ihre literarischen Werke werden nun neu aufgelegt und dem Publikum nähergebracht, etwa vom jungen Verlagshaus Wichola. Mit der Serie «Unkanonischer Kanon» brachte Wichola literaturwissenschaftliche Begleittexte auf den Markt, um die vergessenen Stimmen neu zu verorten. Der Verlag publiziert ausschliesslich ukrainische Autoren – mit Erfolg.

«Es ist eine Frage der Identität. Die Menschen verstanden, dass die Russen gekommen waren, um sie zu töten, nur weil sie Ukrainer waren», meint Bohdana Neborak, Managerin für Kulturprojekte und Redaktorin bei der Zeitschrift «The Ukrainians». «Deshalb fragten sie sich: Was bedeutet es eigentlich, Ukrainer zu sein? Oft gibt uns klassische Literatur diese Antworten.»

«Es ist eine Frage der Identität», sagt die Kulturmanagerin und Redaktorin Bohdana Neborak. «Es ist eine Frage der Identität», sagt die Kulturmanagerin und Redaktorin Bohdana Neborak.

Kristina Thomas

Aber auch innovative Konzepte befeuern die Leselust: Die Buchhandlung Sens auf der Kiewer Flaniermeile Chreschtschatik vereint Co-Working, Eventreihen, Gastronomie und Bücher. Seit der Eröffnung im Februar 2024 sind die Besucherzahlen stetig gestiegen. Monatlich begegnen sich 50 000 Leser, Autoren und die Kreativszene. Das neue Buch des Historikers Serhi Plochi zum Niedergang der Sowjetunion findet sich auf Büchertischen, ebenso wie die Übersetzung von Timothy Snyders «Über Freiheit». Ein kleiner Tisch präsentiert drei Werke des Starautors und kämpfenden Soldaten Artem Tschech. Aber auch internationaler Bestseller wie die Fantasy-Trilogie «Im Zeichen der Mohnblume» von Rebecca F. Kuang sind beliebt.

In der neuen Buchhandlung Sens an der Kiewer Flaniermeile Chreschtschatik gibt es keine Bücher russischer Autoren. In der neuen Buchhandlung Sens an der Kiewer Flaniermeile Chreschtschatik gibt es keine Bücher russischer Autoren.

Kristina Thomas

Was man hier nicht findet: Werke in russischer Sprache oder von russischen Autoren. Dass die Büchertische voll sind mit Büchern der Landessprache, erfüllt den Sens-Gründer Olexi Erinchak mit Stolz. Denn dass sie einmal ganze Buchhandlungen füllen, war lange kaum vorstellbar: Noch bis zum russischen Überfall 2014 auf die Krim und die Regionen Donezk und Luhansk im Osten des Landes dominierten auf dem Markt die Bücher russischer Verlage und Autoren. «Ein ukrainisches Verlagshaus zu führen, war lange Zeit eher ein Herzensprojekt», erklärt der Ökonom Wischlinski. Gegen die russische Konkurrenz kamen sie nicht an. «Heute ist es ein echtes Geschäft.»

In seiner Buchhandlung Sens gibt es keine Bücher russischer Autoren: Olexi Erinchak. In seiner Buchhandlung Sens gibt es keine Bücher russischer Autoren: Olexi Erinchak.

Kristina Thomas

Zu den Gründen zählen die schrittweise Abkopplung vom russischsprachigen Buchmarkt seit 2016 und die Rückkehr zur ukrainischen Sprache. Seit 2023 sind der Import aus Russland und Weissrussland sowie die Tätigkeit russischer Verlage verboten. Zudem dürfen die Verlage nur noch in Ukrainisch, in Sprachen der Minderheiten und der Europäischen Union publizieren. «Das hat einen neuen Markt geschaffen, insbesondere im Bereich internationaler Übersetzungen», so Wischlinski. Ob Thriller oder Liebesromane – Booktok, also Inhalte zu Büchern auf Tiktok, schürt auch in der Ukraine die Nachfrage.

Dennoch grenzt es an ein Wunder, dass sich der Buchmarkt so rasant entwickelt, denn die Situation bleibt fragil. Zwar wurde die zerstörte Druckerei Factor Druk dank einem grosszügigen Spender wieder aufgebaut – doch Lieferketten sind unsicher, Papier teuer, Übersetzerinnen rar. «Titel erscheinen verspätet», sagt der Buchhändler Olexi Erinchak. «Aber im Krieg muss man lernen, agil zu sein.» Daher kauft er ein, sobald sich Interesse an einem Titel abzeichnet.

«Lesen hilft, unsere Würde zu bewahren»

Ein Grossteil der wachsenden Einnahmen der Buchbranche sei auf die gestiegenen Preise zurückzuführen, erklärt Olexandra Kowal, die das Ukrainische Buchinstitut leitet. Dass die Menschen dennoch Bücher kaufen, führt der Ökonom Wischlinski auch darauf zurück, dass sie weniger verreisen können und sich der Konsum verlagert. Er ist vorsichtig: Der Markt habe sich noch nicht stabilisieren können. «Noch haben die Menschen Geld – das liegt auch an der Unterstützung aus dem Westen», sagt Wischlinski. Doch die Zukunft sei ungewiss. In zwei, drei Jahren werde sich zeigen, wie viele Buchhandlungen überlebten. «Wenn die Menschen nur noch das Nötigste kaufen, fallen Bücher als Erstes weg.»

Der sechsjährige Olexi Makarow bereitet, unterstützt von seinem Vater, die Bücher für den Online-Unterricht vor. Seine Schule in Kramatorsk wurde im August 2022 zerstört. Der sechsjährige Olexi Makarow bereitet, unterstützt von seinem Vater, die Bücher für den Online-Unterricht vor. Seine Schule in Kramatorsk wurde im August 2022 zerstört.

Leo Correa / AP

Der Krieg bedroht nicht nur Bücher, Wirtschaft und Infrastruktur, sondern auch die Kreativen selbst. «Für diese Generation von Schriftstellern ist der Krieg verheerend», sagt die Kulturmanagerin Bohdana Neborak. Zahlreiche Autorinnen und Autoren sind an der Front. Einige sind gefallen, andere im Kampf verschollen – wie der Dichter und Buchdesigner Mikola Leontowitsch. «Er war brillant», sagt Neborak über ihren Freund. «Seit zwei Jahren gibt es keine neuen Werke mehr von ihm.»

Neborak moderiert an einem Abend im Juni eine Buchpräsentation bei Sens. Vorgestellt wird die Neuauflage einer vergessenen Übersetzung von Hans Christian Andersens «Schneekönigin und andere Märchen», das in der Ukraine Ende des 19. Jahrhunderts erschien. Der Saal ist voll. «Die Menschen haben ein Verlangen nach Klassikern und neuen Stimmen. Jetzt braucht es Räume für neue Diskurse und Begegnungen rund um diese Literatur.» Immer mehr Buchhandlungen und Verlage gründen Buchklubs und Diskussionsformate.

«Hier spüren die Menschen neue Emotionen», sagt die Kulturmanagerin. Im Angesicht des Krieges ist Lesen nicht nur Zerstreuung, sondern auch Ausdruck von Menschlichkeit, Identität und Widerstand. «Lesen ist ein sehr humanistischer Akt», sagt Bohdana Neborak. «Es hilft, unsere Würde zu bewahren – selbst in verheerenden Situationen.» Es geht um Hoffnung und Trost, und vor allem: «Dank der Lektüre spüren die Leute, dass sie nicht allein sind und dass sie immer noch Menschen sind.»