Die Kunstgeschichte ist sich bis heute nicht einig, ob Lovis Corinth als impressionistischer oder expressionistischer Maler gelten soll. In Wahrheit war er beides und keins davon. Aus akademischen Anfängen, die vom Naturalismus und vom Jugendstil geprägt waren, fand er zu einem freieren, farbsatten, zwischen allen Malschulen liegenden Ausdruck. Schon vor 1900 wird sein Pinselstrich breiter und flächiger, und als Mitglied der Berliner Secession, der er bis zu seinem Tod angehört, löst er sich endgültig vom Historismus der Makart-Tradition.
Sein Spätwerk, das von bayerischen Landschaften bis zu Bibelszenen reicht, lässt sich keiner Stilrichtung zuordnen. Am ehesten erinnert es an den späten Beckmann, der gleichfalls mit expressionistischen Mitteln zu einer eigenen Mythologie gelangt. Aber Corinth, der Preuße in Bayern, ist unberechenbarer, quecksilbriger, schwerer zu fassen.
Die Nationalsozialisten freilich wussten genau, was sie an Corinth hatten: einen Feind ihres Kunstideals. Den Grundton hatte schon ihr Chefideologe Alfred Rosenberg angestimmt: der „Schlächtermeister des Pinsels“ sei „im lehmig-leichenfarbigen Bastardtum des syrisch gewordenen Berlins“ gestrandet. Adolf Ziegler, ab 1936 Präsident der Reichskammer der bildenden Künste, spielte dazu die Verhetzungs-Melodie: Corinth habe „nach seinem zweiten Schlaganfall nur noch krankhafte und unverständliche Schmierereien“ hervorgebracht. Einen ersten Schlaganfall hatte der Maler 1911 tatsächlich erlitten; der zweite war eine Erfindung der Nazis.
359 Werke von Corinth wurden in deutschen Museen konfisziert
Ziegler wusste genau, was er mit seiner Denunziation anrichtete, denn er organisierte im Sommer 1937 die Beschlagnahmungen von Kunstwerken für die Ausstellung „Entartete Kunst“, die vom 19. Juli an in München zu sehen war. Im Obergeschoss war eine ganze Wand der Kunst von Lovis Corinth gewidmet. Im selben Saal hing auch Franz Marcs „Turm der blauen Pferde“. Die malerische Elite der Moderne traf sich im braunen Kunstzuchthaus. Insgesamt wurden 359 Werke von Corinth in deutschen Museen konfisziert. Siebzehn davon stammten aus der Sammlung der Berliner Nationalgalerie.
Zum hundertsten Todestag des Malers hat die Alte Nationalgalerie jetzt eine Ausstellung eingerichtet, die von den Folgen der Kunstverfolgung des Dritten Reiches erzählt. Die Bilder Lovis Corinths und seiner Frau Charlotte Berend, deren Arbeiten wie die ihres Mannes zur Neuen Abteilung der Nationalgalerie gehörten, hatten dabei ganz unterschiedliche Schicksale. Einige wurden verschont, andere nach dem Ende der Feme-Schau zurückgegeben, wieder andere zu Geld gemacht.
Der erste Raum der Ausstellung versammelt zehn Gemälde, die im Museum bleiben durften, dorthin zurückgingen oder sogar neu dazukamen, darunter Corinths spätes Hauptwerk „Das Trojanische Pferd“, sein Porträt der Malerfamilie Rumpf und Charlotte Berends Bild der alten Tajo-Brücke von Toledo, das vom preußischen Kultusministerium, in dem es hing, an die Nationalgalerie überstellt wurde.
Eine ästhetische Logik der Verschonung ist nicht erkennbar: Das „Trojanische Pferd“ trägt stark expressionistische Züge, die „Donna Gravida“, in der sich Corinths schwangere Ehefrau verbirgt, knüpft dagegen an frühe Porträts des Malers an, während Charlotte Berends „Selbstbildnis mit Modell“ eindeutig ein Werk der Neuen Sachlichkeit ist. Berend stammte aus einer jüdischen Familie; „Toledo“, das Selbstbildnis und ein Porträt des Architekten Hans Poelzig blieben dennoch in Berlin. Die Selektion durch die Kunstwarte des Regimes muss hastig und wahllos vonstattengegangen sei, ein kurzer Blick genügte offenbar, um genehme von „entarteten“ Bildern zu trennen.
Charlotte Berend-Corinth, „Schachspieler in Lovis Corinths Krankenzimmer in Amsterdam“, 1925André van Linn/Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie
Solche verfemten Werke werden im zweiten Saal gezeigt – als Reproduktionen, denn keins von ihnen befindet sich mehr in Berlin. Es genügt, den „Ecce Homo“ aus dem Baseler Kunstmuseum zu sehen, um zu erkennen, welche Verluste das Museum durch die Säuberungsaktion der Nazis erlitten hat. Corinth hat die Auspeitschung Christi in seinem Todesjahr 1925 als zeitgemäße Folterszene gemalt: Der Henker rechts von Jesus trägt eine Ritterrüstung aus dem Theaterfundus, jener auf der linken Seite den weißen Kittel eines Arztes.
Der Maler wusste noch nichts von den martialischen Verkleidungen der SS, aber er hat das Bündnis zwischen Wissenschaft und Unmenschlichkeit, das unter der Diktatur entstand, exakt erfasst – so wie er auf dem Bildnis Wolfgang Gurlitts von 1917 den neuen Typus des bürgerlichen Kunsthändlers mit avantgardistischen Neigungen festhielt. Während Gurlitts Cousin Hildebrand, der Begründer der berüchtigten Privatsammlung, den Verkauf des „Ecce Homo“ nach Basel organisierte, kaufte Wolfgang Gurlitt sein eigenes Porträt nach einer erfolglosen Auktion in der Schweiz zurück. Heute hängt es in Linz.
Der zweite Teil der Ausstellung handelt von den Anstrengungen, die Verluste des Museums auszugleichen. Nach dem Krieg, der die Nationalgalerie noch zwei weitere Corinth-Originale gekostet hatte, waren ihre Sammlungen zwischen Ost und West geteilt, die verbliebenen sieben Gemälde Corinths hingen in Dahlem und später in Charlottenburg, die drei Bilder von Charlotte Berend auf der Museumsinsel. Beide Seiten bemühten sich um Ergänzung ihrer Bestände: Die DDR-Nationalgalerie bekam zwei Corinth-Bilder aus dem Breslauer Kunstmuseum von der polnischen Regierung und kaufte vier weitere, darunter zwei mit ungeklärter Provenienz, auf dem Kunstmarkt; die Westberliner Teilsammlung erwarb fünf Gemälde Corinths und erhielt ein Bild Charlotte Berends, das den Maler auf seinem Totenbett in Zandvoort bei Amsterdam zeigt, als Geschenk des gemeinsamen Sohns Thomas.
Wie es dem „geblendeten Simson“ erging
Der Blickfang dieser Sektion ist aber nicht die Totenszene, sondern der „Geblendete Simson“ von 1912, ein Kraftkerl mit blutiger Augenbinde im klassischen Corinth-Kolorit, dessen Bildnis das DDR-Museum aus dem Nachlass eines exilierten jüdischen Sammlers mit dem Kredit einer staatlichen Exportfirma ankaufte. Um das Geld zurückzahlen zu können, ließ die Nationalgalerie elf ihrer Gemälde bei Christie’s versteigern. Es war das erste Mal, dass DDR-Museumseigentum unter den Hammer kam.
Die Ausstellung ist nicht das Großereignis, das man sich zu Corinths hundertstem Todestag vielleicht gewünscht hätte. Dennoch möchte man mehr von ihrer Sorte sehen. Denn Museen haben längst nicht mehr nur die Aufgabe, Kunst aufzubewahren und zu zeigen, sie müssen auch erzählen, wie die Werke dort hinkamen, wo sie jetzt sind. Insofern ist die Schau selbst ein trojanisches Pferd: Sie schärft den Blick auf die Bilder, indem sie deren Wege durch die Geschichte nachzeichnet. Wäre „Ecce Homo“ in Berlin verblieben, wäre das Bild heute ein Aushängeschild der Alten Nationalgalerie. So wirkt Corinths „Trojanisches Pferd“ mit seinem tiefen Blau, das um die Mauern von Troja wallt, als läge die Stadt Hektors am Meer. Man kann es nicht oft genug betrachten.
Im Visier! Lovis Corinth, die Nationalgalerie und die Aktion „Entartete Kunst“. Alte Nationalgalerie; bis 2. November. Kein Katalog.