Stand: 03.08.2025 06:00 Uhr
Dirk Reinartz gehört zu den wichtigsten deutschen Dokumentarfotografen. Zur aktuellen Retrospektive im Landesmuseum Bonn hat der Steidl Verlag einen fast 300 Seiten starken Bildband herausgebracht.
Auf dem Bretterfußboden eines ansonsten menschenleeren Festzelts liegt ein langhaariger blonder Mann und schläft. Lang hingestreckt auf dem Rücken, wie soeben vom Stuhl gefallen. Aufgenommen hat Dirk Reinartz diese Szene 1976 für die Serie „Buxtehude“, wo er jahrzehntelang lebte.
Eine ältere Frau im Haushaltskittel steht barfuß im gerundeten Schaufenster des Cafés Gnosa im Hamburger Stadtteil St.Georg. Sie putzt wie selbstvergessen die Scheibe, während daneben im Schaufenster geschmierte Brote auf Kundschaft warten. Eine banale Alltagszene mit skurrilen Details.
Aus der Reportagereihe „Die Nacht des weißen Bären“ stammt ein Bild, das Reinartz 1972 auf einer Grönland-Reise für das Magazin „Stern“ ablichtete: eine karge Schneelandschaft, durchzogen von zerklüfteten Eisverwerfungen. Inmitten dieser unwirtlichen Szenerie erkennbar, ganz klein, der schwarze Umriss eines Schlittenhunde-Gespanns mit drei Personen, das sich in der Weite fast verliert.
Nur drei Beispiele aus dem 260 Bilder umfassenden Buch „Fotografieren, was ist“. Es versammelt einen repräsentativen Querschnitt der bislang gesichteten Arbeiten aus dem Nachlass des Fotografen Dirk Reinartz. Sebastian Lux, Kurator bei der Hamburger Stiftung F.C. Gundlach, schreibt dazu im Einleitungstext:
Geprägt von einer empathisch-kritischen Haltung verlangt Dirk Reinartz‘ Werk geradezu danach, jene Spannungsfelder nachzuvollziehen, die der Fotograf empfunden und im Medium Fotografie ausgelotet hat. Anstatt die Biografie chronologisch nachzuerzählen, identifiziert die Retrospektive fünf Begriffspaare, zwischen denen sich Reinartz in seiner fotografische Betrachtung der conditio humana bewegt hat.
Leseprobe
Menschliches Leben zwischen Nähe und Ferne
Das Buch nähert sich dem umfangreichen Oeuvre in insgesamt fünf thematischen Kapiteln. Überschrieben sind sie zum Beispiel mit „Nähe/Ferne“, „Macht/Ohnmacht“ oder „Geschichte/Gegenwart“. Dirk Reinartz‘ sensibler Blick auf das menschliche Leben offenbart sich interessanterweise nicht unbedingt darin, dass Menschen anwesend sind. Streckenweise sind gar keine Personen zu sehen, lediglich als Ahnung, als Nachhall in die Fotografien eingeschrieben.
Beklemmend sind die menschenleeren Schwarz-Weiß-Bilder der Serie „Von Tür zur Tür im Hochhaus“, für die Reinartz 1981 in trostlosen Wohnblocks im Hamburger Stadtteil Horn unterwegs war. Lange, traurige Flure, in die kaum Licht fällt. Wenig einladende Treppenhäuser. Klingelschilder mit hunderten Namen darauf. Alles menschliche Leben ordnet sich der Tristesse der Baustruktur unter, scheint sich im Inneren der Wohnblocks zu verkriechen.
Eindrückliche Bildserien beleuchten gesellschaftliche Themen
Dirk Reinartz machte zunächst eine Fotografenausbildung in Aachen und studierte an der Folkwang Schule in Essen. Mit gerade mal 23 wurde er 1971 Fotograf für den „Stern“ und steuerte zahlreiche Bildreportagen für „Merian“, das „ZEIT-Magazin“ und die Kunst-Zeitschrift „art“ bei. Neben dem Fotojournalismus realisierte Reinartz viele freie Fotoprojekte.
In dem Bildband ebenfalls wiederzuentdecken: Fotos aus der bekannten Serie, für die er Bismarck-Denkmale in ganz Deutschland fotografierte. Außerdem: Bilder des Zyklus „totenstill“, in dem sich Reinartz fotografisch mit Konzentrationslagern der NS-Zeit beschäftigte. Er behandelte in seinen Fotos oft geschichtliche, politische – manchmal auch abgründige Themen.
Bildbände über Architektur, Menschen oder Landschaften sind immer ein Genuss für die Augen. NDR Kultur stellt immer wieder herausragende Neuerscheinungen im Programm vor.
Licht, Schatten und der Blick auf Deutschland
„Das allerbeste am Licht ist seine andere Seite, der Schatten – für mich wahrscheinlich noch wichtiger als das Licht selbst“, sagte Reinartz. Das Zitat offenbart so etwas wie die ästhetische und inhaltliche Prämisse seines Schaffens. Besonders interessierte sich der Fotograf für den Zustand der deutschen Gesellschaft. Vom Suchen nach deutschen Befindlichkeiten, nach mentalen und politischen Haltungen und Seelenzuständen der Deutschen – davon zeugen etliche seiner Arbeiten.
Zu den stärksten gehören sicherlich die Fotos der lakonischen Serie „Kein schöner Land“ – entstanden zwischen 1978 und 1987. Sie können als ironische, nicht selten verstörende Kommentare auf deutsche Eigenarten gelesen werden. Bilder von sorgsam eingehegten Campingplatz-Parzellen, wenig einladenden Parkbänke in betonierten Sitzecken. Und auf eine Grundstücksmauer hat jemand scharfkantige Glasscherben zementiert.
Dirk Reinartz‘ klare, oft streng komponierte fotografische Sprache dokumentiert nüchtern das Sichtbare – und das, was dahinter liegen könnte. Es sind stille, ausdrucksstarke Bilder, die auch nach Jahrzehnten immer noch wirken. Seine ethische Grundhaltung, sein humanistischer Respekt, leuchtet aus allen Fotos hervor – und das ist absolut zeitlos.
Fotografieren, was ist
von Dirk Reinartz
- Seitenzahl:
- 272 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Verlag:
- Steidl Verlag
- ISBN:
- 978-3-96999-333-0
- Preis:
- 70 €