Während die Geburt früher reine Frauensache war, sind inzwischen rund 90 Prozent der Väter bei der Geburt ihres Kindes dabei. Laut einer Studie der Uniklinik Bonn empfinden aber nicht alle Väter dabei Glück. Ein Viertel der Väter sprach demnach sogar von einem „sehr schrecklichen Geburtserlebnis“. Sollten Väter bei der Geburt dabei sein? Das fragen wir im fünften Teil unserer Kolumne „Familienbande: Die Kolumne für Fragen rund um Schwangerschaft, Kindergesundheit und Pubertät“ unsere Expertin Anja Salmassi, Hebamme und Leiterin des Bereichs Geburtshilfe und Gynäkologie in der Pflegedirektion des Marienhospitals in Aachen. 

Also Frau Salmassi, sollten Väter bei der Geburt dabei sein?

Stell dir vor, dein Kind wird geboren und du bist nicht dabei?! Ein Gedanke, der nicht für alle gleich ist. Was könnten Gründe dafür sein? Vielleicht, weil du denkst, du könntest ohnmächtig danebenstehen, nicht weißt, was du tun kannst oder einfach, weil du Angst hast? Oder weil dir vielleicht immer schon gesagt wurde: „Das ist Frauensache!“

Dein Kind könnte dich womöglich eines Tages fragen „Wo warst du, Papa?“.

Anja Salmassi,

Hebamme aus Aachen

Klingt falsch? Ist es auch. Dieser Satz gehört wohl eher ins letzte Jahrhundert, obwohl er meiner Meinung nach auch dort genauso falsch gewesen ist. Er ist ein großes Missverständnis. Geburt ist nicht „Frauensache“. Sie ist Familiensache, Partnerschaftssache, eure Sache.

Aber lass uns doch mal unterschiedliche Perspektiven beleuchten, warum jetzt deine Präsenz zählt oder du vielleicht zwischen Wehen oder Warten stehst mit der Vorstellung, dein Kind könnte dich womöglich eines Tages fragen „Wo warst du, Papa?“.

Wenn Leser und Leserinnen sich über einen solch provokanten Titel wundern, so kann ich als Hebamme sagen, dass das immer wieder für einige Paare die Realität ist oder zumindest für manche ein großer innerer Konflikt.

Die Geburt ist keine Show, bei der du Gast bist, sondern eine gemeinsame Erfahrung.

Anja Salmassi,

Hebamme aus Aachen

Dabei ist die Geburt eines Kindes kein medizinischer Ausnahmezustand, den die Mutter allein bewältigen muss. Die Geburt ist viel mehr, ist Übergang, ein Neuanfang. Und sie ist ein Moment tiefster Verbindung, auch für euch als Paar! Und darum zählt es, dass du da bist! Ob als werdender Vater oder als Lebenspartner/-in, die Geburt ist keine Show, bei der du Gast bist, sondern eine gemeinsame Erfahrung. Deine Anwesenheit ist kein Extra, sie ist ein Geschenk. Selbst wenn du „nichts tun kannst“, bist du für die Gebärende unsagbar wichtig. Du bist ihre Stimme und vertrittst ihre Interessen, sollte sie es nicht (mehr) können, weil du sie am besten kennst. Deine ruhige Stimme und dein ruhiger Atem, der die Frau durch die Wehen begleitet, deine Hände, die halten, den Rücken massieren oder der werdenden Mutter einfach immer wieder zu trinken reichen, all das kann Ängste mildern und Stress senken und damit den natürlichen Geburtsverlauf unterstützen.

Väter können die werdende Mutter bei der Geburt unterstützen, indem sie einfach da sind, sagt unsere Kolumnistin. Foto: Kzenon/adobestock

Diese Sicherheit bringt Vertrauen. Und Vertrauen bringt eine Geburt ins Fließen. Wissenschaftliche Studien liefern da ganz eindeutige Ergebnisse: Frauen, die kontinuierlich betreut werden, übrigens auch von einer Hebamme, haben oft kürzere Geburten, brauchen weniger Schmerzmittel und berichten hinterher von einem positiveren Geburtserlebnis. Und dieses prägt schließlich fürs weitere Leben.

Echtes Dabeisein zählt

Wenn du Angst hast, etwas falsch zu machen, dann ist das okay. Gebären ist schließlich intensiv für alle Beteiligten, und unsere Gesellschaft ist sehr auf Angst haben oder Angst machen fokussiert. Als erfahrene Hebamme möchte ich dir aber mit auf den Weg geben, dass niemand Perfektion erwartet und du musst auch kein Mediziner sein. Was zählt, ist dein echtes Dabeisein. Du kannst zuhören, unterstützen und Fragen stellen, die in dir aufkommen. Du musst wissen, dass auch du nicht alleine gelassen wirst. Drum bleibe da, auch wenn die Geburt vielleicht nicht ganz leicht verlaufen sollte. Gerade dann zeigt sich, wie wertvoll es ist, wenn sich die wichtigste Begleitperson – meistens der werdende Vater – nicht wegläuft, sondern mitträgt.

Viele Männer berichten, dass die Geburt für sie ein Wendepunkt war. Vom werdenden Vater zum präsenten, verantwortlichen, tief verbundenen Papa, mit Haut und Herz. 

Anja Salmassi,

Kolumnistin der „Familienbande“

Nicht erst die Geburt des Kindes ist der Beginn von tiefster Bindung. Diese beginnt auch nicht beim ersten Kuscheln mit dem Baby zu Hause. Bindung entsteht mit der Entscheidung, die große Veränderung, die ein Kind mit sich bringt, in eurem Leben als Paar, gemeinsam zu erleben. Und wenn du als Vater die Geburt deines Kindes miterlebst, wirst du nicht nur zuschauen, sondern du wirst mitwachsen. Du wirst vermutlich eine Verbindung spüren, die tiefer geht, als Worte je ausdrücken können. Viele Männer berichten, dass die Geburt für sie ein Wendepunkt war. Vom werdenden Vater zum präsenten, verantwortlichen, tief verbundenen Papa, mit Haut und Herz.

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Was kannst du, was könnt ihr nun als Paar tun für eine natürliche, stärkende Geburt? „Natürlich“ soll nicht romantisch verklären bedeuten. Natürlich kann heißen: selbstbestimmt, getragen, unterstützt. Und wenn ihr euch als Paar auf die Geburt gemeinsam vorbereitet, kann sie eine tief empowernde Erfahrung werden. Es gehört dazu, offen über Ängste zu sprechen, sich zu informieren und Wissen anzueignen, gemeinsam den Geburtsvorbereitungskurs zu besuchen und gemeinsam Entscheidungen zu treffen.

Mein Zwischenfazit: Werdende Väter im Kreißsaal – ja, sehr gern! Aber weder als Helden noch als Helfer, sondern als Menschen, die sich bewusst dafür entscheiden, den ganzen Weg gemeinsam zu gehen. Denn die Geburt des gemeinsamen Kindes ist ein elementarer Schritt in das neue Leben als Familie!

Mein zusammenfassender Tipp, wenn ihr ein Kind erwartet: Redet offen und ehrlich miteinander. Seid motiviert. Und wenn du als werdender Vater/Partner/Partnerin denkst, „Ich weiß nicht, ob ich das kann“, dann erinnere dich daran: Es geht nicht ums Können, sondern um dein Dasein!

Und wenn du jetzt immer noch denkst, „Wenn ich das aber nicht aushalte?!“, dann frage dich vielleicht „Was, wenn sie es ohne mich schaffen muss?“

Damit auch mein Artikel kein Missverständnis ist: Er soll vor allem ermutigen! Die Geburt zu begleiten, ist und bleibt immer eine ganz intime und persönliche Entscheidung. Und sollten wir immer auch achtsam mit den unterschiedlichsten Lebensrealitäten umgehen. Sei es eine Geburt ohne Partner/-in, unter medizinisch erschwerten Bedingungen oder mit emotionaler Vorbelastung. Auch wenn es für viele selbstverständlich ist, dass der Vater bei der Geburt dabei ist, aber was, wenn nicht?

Was, wenn die Beziehung nicht trägt oder wenn kein Partner da ist? Oder, wenn es die Umstände schwermachen, egal ob körperlich, kulturell, seelisch oder medizinisch. Oder wenn es einfach der Wille der Schwangeren ist. Dann kann die provokante Aussage im Titel plötzlich gar nicht mehr so provokant klingen, sondern ganz real.

Und darum ist es mir wichtig, zu betonen: Es geht nicht um ein Muss, sondern um ein Dürfen, nicht um Druck, sondern um Möglichkeiten.

Geburt ist kein Leistungstest, für niemanden. Manchmal ist das Leben nicht harmonisch. Es gibt Trennungen, Ängste, Diagnosen oder Unsicherheiten und trotzdem – oder gerade deshalb – darf die Geburt ein stärkender Moment sein, kann kraftvoll, bewusst und würdevoll erlebt werden!

Mein Fazit: Geburt ist mehr als ein wo und wie, sie ist auch eine Haltung. Deshalb noch einmal gefragt: Werdende Väter im Kreißsaal? Mögliche Antwort: Ja, unbedingt! Aber nur, wenn ihr wollt, wenn du willst, wenn es sich richtig anfühlt, mit einem Ja aus tiefstem Herzen, nicht aus Pflichtgefühl oder sozialer Erwartung. Sei dabei, wenn du bereit bist, mit deiner Präsenz zu stärken, mit deiner Ruhe, mit deinem Mitgefühl, mit deiner Liebe. Selbstbestimmung gilt für alle Beteiligten!

Wie ist oder war das bei euch? Wie denkt ihr darüber, die Geburt gemeinsam zu erleben oder wie und warum habt ihr euch vielleicht anders entschieden? Wir von der „Familienbande“ freuen uns über jede Stimme, ob leise oder laut.

Ihre Anregungen und Fragen

Haben auch Sie Fragen an den Mediziner Kentrup, dann schreiben Sie uns gern Ihre Frage per Mail an (madeleine.gullert@aachener-zeitung.de). Neben Anja Salmassi sind Heiner Kentrup Chefarzt der Kinderklinik in Stolberg und Bodo Müller, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am St. Marien-Hospital Düren, unsere Experten.