Skeptisch blickt Vincent Gather auf den Kassenzettel, den ihm der Verkäufer des Dönerladens über die Glastheke gereicht hat. Eigentlich wollte er einen Bewirtungsbeleg, aber den bekommt er nicht. »Für die Steuererklärung, ist ja Arbeit hier«, erklärt Gather und schmunzelt, als er sich draußen an einen der silbernen Bistrotische setzt. »Man muss sich zurückholen, was man kriegen kann.« Unter den Arkaden nahe dem Bayerischen Bahnhof, die an diesem warmen Frühsommerabend im Mai Schatten spenden, beißt er in seinen Lahmacun – einen der besten der Stadt, sagt er – und trinkt Ayran.

Gather ist Youtuber, hat auf der Videoplattform inzwischen knapp 120.000 Abonnenten, und streamt auf Twitch. Angefangen auf Youtube hat er mit einem Freund, gemeinsam sprachen sie über Mode. Aber schnell kamen sie damit an Grenzen: zu klein, zu nischig waren die Themen. Inzwischen postet Gather politische Videos, sagt seine Meinung zu allem Möglichen. Jeden Sonntag veröffentlicht er ein Video, sein Format nennt er »Rage Review«. Inzwischen ist er damit so erfolgreich, dass er davon leben kann, einen Videocutter beschäftigt und aktuell einen weiteren Mitarbeiter sucht. Wer mit Gather sprechen will, muss zuerst an seinem Manager vorbei. Der meldet sich »asap«, nachdem er sich mit Vincent »gesynced« hat. Easy.

Als mir ein Freund zum ersten Mal eins von Gathers Videos schickt, fürchte ich einen Moment, er sei auf einem neurechten Propaganda-Kanal gelandet. »Leipziger Clubsterben: Wie LINKE Praxis scheitert …«, heißt das Video. Gather steht darin vor einer unverputzten Wand in seinem Wohnzimmer, hinter ihm ein Flatscreen und eine Vase, aus der vertrocknete Zweige ragen. Auf den Ärmeln seiner schwarzen Trainingsjacke ziehen sich Streifen von rostroten Lorbeerkränzen vom Nacken bis zu den Handgelenken. Seine Haare hat er an den Seiten auf wenige Millimeter rasiert, der Übergang zu den gegelten Haaren ist sauber. Gather trägt Oberlippenbart. Und er kotzt sich über eine Techno-Szene aus, die »bis ins Mark verdorben« sei und die »anstrengendsten Menschen, die unser Planet hervorgebracht hat« beherberge. Ein Identitärer, der sich über linke Subkultur lustig macht?

»Geil!«, ruft Gather und klatscht in die Hände, als ich ihm davon erzähle. Wir sitzen inzwischen im Park am Addis-Abeba-Platz. Gather sieht aus wie aus seinem Video rausgefallen, trägt sogar die gleiche Jacke. Nur das durchsichtige Brillengestell hat er inzwischen mit einem in Havanna-Optik getauscht. Dass sein Auftreten Widersprüche zulässt, sei sehr bewusst gewählt. »Das soll nicht vorwurfsvoll klingen, aber es gibt in der Öffentlichkeit ein sehr klares Bild, wie Linke aussehen«, sagt Gather. »Ich bin nicht der in der Öffentlichkeit auftretende weiche Mann, der ruhig spricht und sehr entspannt da reingeht. Ich glaube, das ist ein Vorteil, dass man mich sieht und sich nicht denkt: Ah, das ist jetzt wieder einer von den Woken, sondern im ersten Moment ist es so ein kerniger Atze, der da aggressiv reingeht.«

Kerniger Atze, das muss man vielleicht erklären: Atzig ist, wer – am besten reingesteckt in die kurze Sporthose – Polohemd trägt, unter dem der Bizeps spannt und sich die Brustmuskeln abzeichnen; wer bei der Homeparty nicht mit Justus und Marie in der Küche philosophiert, sondern aufm Floor mit seinen Jungs dumm geht; wer schon Skrupel hat, Haftbefehl wegen seiner frauenverachtenden Lines zu pumpen, aber ihn trotzdem hört, weil er einfach eine Deutschrap-Legende ist.

»Du musst kein nerdy Studentenopfer sein, um einen coolen politischen Kompass zu haben«

Gather nutzt seine Atzigkeit, um anders über politische Themen zu sprechen. Anders, als man es von vielen linken Meinungsbildnern kennt, die ihre Umwelt eher akademisieren als kommentieren, die ihren Videos eine ausführliche Quellenarbeit zugrunde legen und ihre Sprache penibel auf jede Form von Diskriminierung überprüfen. Gather spricht anders. Er gießt seine Gedanken in beeindruckende Satzmonster, die Freude und Gefühl für Sprache durchklingen lassen, aber nie nach drittem Semester Politikwissenschaft klingen. Seine Sprache ist derb. Regt er sich über etwas auf, bezeichnet er es als »Rattenpisse«. Alle bekommen ihr Fett weg: die WG, auf deren Homeparty der Awarenessbeauftragte vollgedröhnt auf Ketamin durch die Wohnung schlurft, linke Aktivisten, die sich in ihren Plenarsitzungen verlieren. Das alles ist getränkt in Selbstironie. Weil Gather diese Räume gut kennt.

Und am Ende bleibt immer klar, wer der politische Gegner ist. Gather spricht über Wahlergebnisse im Osten, über rechte Raumnahme, über einen Immobilienmarkt, der Menschen in die Armut treibt. »Du musst kein nerdy Studentenopfer sein, um einen coolen politischen Kompass zu haben«, sagt Gather. »Sondern, du kannst auch links sein, stabile Werte vertreten, dich für Menschenrechte einsetzen und mit deinen Jokes mal ein bisschen über das Ziel hinausschießen.« Er macht den Widerspruch in seiner eigenen Person zum System, in einer Zeit, in der vor allem in der Öffentlichkeit alle auf Eindeutigkeit drängen. Das hat auch mit seiner Sozialisation zu tun.

Jugend in Ost! Ost! Ostdeutschland

Gather wächst auf in Erfurt, »also richtig Ost! Ost! Ostdeutschland«, sagt er. Die Eltern sind Akademiker, seine größeren Schwestern Überfliegerinnen in der Schule. »Die haben dieses Akademiker-Ding komplett durchgespielt. Da war schnell klar: Da brauche ich überhaupt gar nicht mehr reincompeten.« (Reincompeten – Ausdruck beim Online-Gaming für: sich mit jemandem messen, gegen jemanden antreten.) Gather macht dann seinen Hauptschulabschluss und hat viel Zeit, auf der Straße unterwegs zu sein, sammelt Anzeigen.

Es sind die späten Nuller- und frühen Zehnerjahre, in denen Gather nach seiner Identität sucht. Um ihn herum seien viele Menschen migrantisch geprägt gewesen. Junge Russen oder Türken, die stolz waren auf ihre Herkunft. »Dann gab es halt zwei Optionen: Entweder du bist die Kartoffel oder du bist der stramme Deutsche«, erzählt Gather, der sich für Letzteres entscheidet. »Wenn es Meinungsverschiedenheiten gab, hat man sich im Stadtpark bei den Steinbänken getroffen und dann gab es Fetzereien«, erzählt er. »Da hätte mir keiner erklären können: Es ist jetzt wichtig, dass du mit deinen Gefühlen in Touch kommst. Das war ganz weit weg von mir und ich glaube, das ist nach wie vor ganz weit weg von vielen Leuten.« Links zu sein, das war damals auch deshalb keine Option für ihn, weil die Vorbilder gefehlt hätten. Linke, das seien nur die Punks gewesen und mit denen wollte man nichts zu tun haben.

Gather blinzelt in die Sonne, die inzwischen tief steht, und denkt an den Sommer 2024. Hunderte Neonazis, die meisten davon kaum 18, protestierten damals am Leipziger Hauptbahnhof gegen den Christopher Street Day. »Weißt du, das hätte ich mir damals gewünscht«, sagt Gather. »Stabile Jungs mit Koppelschnitt, die cool aussehen, martialisch auftreten, die wandern gehen, erlebnisorientiert sind.« Heute ist er froh, dass es diese Möglichkeiten der Vernetzung für ihn nicht gab, dass er nie ideologisch gefestigt gewesen sei, was ihn zusammen mit seinem Elternhaus vor dem Abrutschen in den Rechtsextremismus bewahrt habe.

Enttäuscht von Pegida

2015, Gather ist damals 20, erlebt Pegida aufgrund der Flüchtlingskrise seinen Höhepunkt. »Da kam dann die Reflexion bei mir, dass ich so dachte: Mein Gott, da sind nur Stürzer unterwegs. Was sind das für Leute? Die packen es ja wirklich einfach überhaupt nicht, und das hat mich unfassbar sauer gemacht.« Gather verlässt Erfurt, geht zuerst nach Berlin, dann nach Leipzig, kommt erstmals mit linker Subkultur in Kontakt. »Was mir geholfen hat, war auch Kiffen«, sagt er. »Irgendwann habe ich meine Identität eben nicht mehr in diesem Mann-Sein gefunden, sondern im Hip-Hop, im Sprühen, was ja von sich aus antikapitalistisch geprägt ist.«

Am Sonntag nach unserem Gespräch geht sein nächstes Video online: »Aufgewachsen in OSTDEUTSCHLAND: wieso ICH früher RECHTS war (und es heute NICHT mehr bin).« Zwei Monate später hat das Video fast 165.000 Aufrufe, nur zwei andere seiner Videos wurden noch häufiger geklickt.

Angebot für junge Männer

An einem Dienstagabend im Juni winkt Gather vom Balkon seines Studios im Leipziger Norden, das Handy am Ohr: »Bist du das, der da so lost im Hof rumläuft?« Eine Metalltreppe führt hoch zu dem Loft, in dem Gather seit Kurzem seine Videos aufnimmt und mehrmals die Woche streamt. Der Schreibtisch mit den drei Bildschirmen steht etwas verloren in dem riesigen Raum. In einer Ecke hängt ein Boxsack von der Decke. Über der Spüle stapeln sich Dosen mit süßem Pulver, das man sich zu Energydrink anrühren kann. Gather macht dafür bezahlte Werbung in seinen Videos. So wie fast jeder große deutsche Streamer.

Gather wirft sich auf einen Sitzsack und rollt sich ein bisschen hin und her, bis er eine bequeme Position findet. Auf seinem schwarzen T-Shirt steht »I ❤️ Arbeitszeitbetrug«. Es ist von seiner eigenen Modemarke, die er mit einem Freund betreibt.

Nach unserem Gespräch sei ihm irgendwie noch mal aufgefallen, welche Relevanz seine Geschichte hat. Rechts zu sein sei eben schon seit Jahrzehnten Jugendkultur in Ostdeutschland, aber auch darüber hinaus. »Damals haben wir uns über Infrarot Landser-Lieder aufs Handy geschickt«, sagt Gather, der damals auch T-Shirts der Rechtsrock-Band trug. »Heute läuft der Kulturkampf halt über Tiktok.« Aber es gebe zu wenige Menschen, die Teil dieser Jugendkultur waren und darüber sprechen. »Es gibt die ein, zwei Aussteiger, die da voll drin waren, aber das ist ja nicht relatable. Das ist bei mir anders.«

Gather macht mit seiner Geschichte ein Angebot an junge Männer, die nach ihrer Identität suchen, die sich nicht angesprochen fühlen von einer Linken, die Maskulinität mit Argwohn begegnet. Die stattdessen bei Männern wie Maximilian Krah, Jordan Peterson oder dem rechten Influencer Leonard Jäger alias »Ketzer der Neuzeit« fündig werden, die im politischen Vorfeld rechtsextremen Parteien den Weg ebnen. »Du kannst ein weicher und aufgeklärter Mann sein, der zu seinen Gefühlen steht«, sagt Gather, der auch offen über seine erfolgreiche Therapie spricht, »aber auch einer, der dreimal die Woche zum Kampfsport geht und sich ein paar vor die Fresse hauen lässt.«

Also braucht es einfach mehr Vincents, die über Politik sprechen, um rechte Hegemonie im Internet zu brechen? Den großen Bruder, der spricht wie du, dir aber auch mal den Kopf wäscht, wenn du »Rattenpisse« laberst?

»Ich weiß es nicht«, sagt Gather. Wer seine Videos schaut? Ob es am Ende doch nur eine linke Blase ist? Das kann er nicht sagen. »Aber ich versuche es wenigstens, anschlussfähig zu sein. Ich kann verstehen, wenn Leute sagen, sie wollen nicht mehr anschlussfähig sein. Gerade wenn es um Sexualität geht oder auch Herkunft, irgendwann sagt man dann als Betroffener, das ist nicht meine Aufgabe. Aber in meiner Identität als weißer Cis-Mann, der in Ostdeutschland aufgewachsen ist, habe ich den Freiraum, anschlussfähig zu sein.«

Gleichzeitig sieht sich Gather in erster Linie nicht als politischer Influencer. Er sei vor allem Unterhalter, möchte Menschen mit seinen Videos eine gute Zeit bescheren und vielleicht noch einen Denkanstoß mitgeben. Verantwortung, mit linkem Kulturkampf den Rechtsruck in seiner Heimat zu bekämpfen, verspüre er nicht. »Vielleicht stellt sich mir die Frage aber auch nicht, vielleicht mache ich es auch schon.«