Das Lenin-Mausoleum auf dem Roten Platz ist zu und soll erst in zwei Jahren wieder öffnen. Doch manche wollen es gleich ganz schließen. Selbst Russlands Präsident Putin wirft Lenin nun Fehler vor – wegen dessen Ukraine-Politik.
Der Besuch bei Lenin beginnt ganz hinten in einer etwa 100 Meter langen Schlange. Rechts, jenseits der Grasböschung, steht die Kremlmauer, links das Backsteingebäude des Historischen Museums, und nach vorn geht der Blick über das leicht ansteigende Pflaster über den Roten Platz hinweg zu den Türmen der Basiliuskathedrale.
Unter den Wartenden sind ausländische Touristen klar in der Minderheit. Nach beständigem Vorrücken und einer dreiviertel Stunde Sicherheitskontrolle an drei parallelen Metalldetektoren ist man bei Lenin angekommen. Taschen und Rucksäcke sind verboten im umzäunten Areal.
Direkt an der Kremlmauer entlang führt der Weg hinter das markante, von Paraden bekannte, mit dunkelrotem und schwarzen Granit verkleidete Mausoleum des Revolutionärs und Begründers der Sowjetunion. Dann links vorbei zum Eingang, hinein in einen schwarz ausgekleideten Vorraum, dem sich sofort karg beleuchtete Treppen anschließen. Auf jedem Absatz ein Uniformierter, der sofort loszischt, wenn man stehen bleibt oder gar das Handy zücken will.
Am letzten Tag vor seiner Schließung stehen die Menschen vor dem Lenin-Mausoleum in Moskau Schlange.
Seit 1924 einbalsamiert und aufgebahrt
Erlaubt, wenn man die kühle Trauerhalle betritt, sind nur zwei Dinge: immer weitergehen und schnell nach links in den gläsernen Sarkophag schauen. Schwach warm angestrahlt, ist darin der wächsern wirkende Lenin aufgebahrt, im dunklen Anzug und mit dem markanten rötlichen Bart am Kinn.
Keine Minute vergeht, dann führt der Weg auch schon treppauf aus dem Mausoleum und zu den Gräbern an der Kremlmauer. Leonid Breschnjew, Jurij Gagarin, Stalin, Clara Zetkin, in- und ausländische Kommunisten, Helden der Sowjetunion, frühere politische und Militärführer – zählt man die Einzelgräber und Urnen zusammen, sind hier seit 1917 mehr als 120 Menschen bestattet worden.
Zurück auf dem turbulenten Roten Platz bleibt das unwirkliche Gefühl, gerade einen Toten gesehen zu haben, der sich – nach seinem Tod 1924 einbalsamiert und seither regelmäßig behandelt – äußerlich in Bestform befindet.
Im Mausoleum und um das Mausoleum herum herrschen strenge Regeln – nichts soll den vorgegebenen Ablauf eines Besuchs stören.
Russisch-orthodoxe Kirche will Abriss des Mausoleums
Allerdings: Seit Ende Juli ist es vorbei mit dem Besuch bei Lenin. Wegen umfassender Sanierungsarbeiten bleibt das Mausoleum geschlossen – bis 2027. Geht es nach der russisch-orthodoxen Kirche, würde das auch nach den zwei Jahren so bleiben. Sie trommelt seit dem Ende der Sowjetunion mehr oder weniger laut für die ordentliche Beisetzung Lenins, für ein Ende des Kultes um den Diktator – und für den Abriss des Mausoleums.
„Es muss vielleicht nicht komplett zerstört werden, man könnte es irgendwo weit entfernt vom Zentrum wieder aufbauen, als Museum. Zur Mahnung an unsere Nachkommen, welche ungeheuren Formen eine falsche Religiosität annehmen kann“, sagt der orthodoxe Priester Alexander Timofejew in einem Dokumentarfilm, der Ende Juni in Moskau Kino-Premiere feierte. Aber einen Platz im Zentrum Russlands an der Kremlmauer dürfe es nicht haben.
In „Die Mumie“ hat Filmautor Andrej Afanassjew alles zusammengetragen, was für die Schließung des Mausoleums spricht. Produziert und seit der Veröffentlichung immer wieder ausgestrahlt wurde der Film von SPAS, dem Fernsehsender der russisch-orthodoxen Kirche.
Stalin (links) war der Begründer des Lenin-Kults in der damaligen Sowjetunion – auch, um sich als legitimer Nachfolger des Begründers der UdSSR zu profilieren.
Lenin-Kult als Glaubensersatz?
Um das Bauwerk des Architekten Alexej Schtschussew ranken sich Verschwörungsmythen: Angeblich gleiche es einer okkulten, ja satanischen Stätte oder einem heidnischen Tempel. Im Film selbst erklärt der Autor: „Nach dem Tod Lenins wurde sein Kult in der Sowjetunion zu einer der Grundlagen der sowjetischen Ideologie. Lenin wurde als quasi-Übermensch dargestellt, der auf die Erde gekommen sei, um dem sowjetischen Volk den Weg zum ewigen Glück zu öffnen.“
In einem populären sowjetischen Lied habe es geheißen: „Lenin ist immer lebendig, Lenin ist immer mit dir, Lenin ist in deinem Frühjahr, in jedem glücklichen Tag, Lenin ist in dir und in mir.‘ Solche Worte zeigten, dass es im atheistischen Staat nicht um die Abschaffung des Glaubens ging, sondern um seinen Ersatz.
Lenins Bolschewiki bekämpften die Kirche mit großer Brutalität, sahen in ihr die Stütze des alten, reaktionären Regimes. Kirchenbesitz wurde enteignet, Kirchen entweiht, Geistliche verfolgt und getötet. Das scheint ebensowenig aufgearbeitet zu sein wie der Fakt, dass Lenin während und nach der Oktoberrevolution gezielt Terror und Massenerschießungen zum Machterhalt einsetzten ließ.
In aktuellen Umfragen zur wichtigsten Persönlichkeit aller Zeiten liegt Lenin seit Jahren stabil auf Platz drei – hinter Präsident Wladimir Putin und, mit weitem Vorsprung, Diktator Josef Stalin.
Putin, Lenin und die Ukraine
Wird Wladimir Iljitsch Uljanow, wie Lenin mit bürgerlichem Namen hieß, tatsächlich umgebettet und beigesetzt? Im heutigen Russland heißt die entscheidende Frage: Was denkt der Präsident darüber? Der sagte im vergangenem Dezember: „Was die Bestattung von Lenins Leichnam angeht: Vielleicht kommt die Gesellschaft irgendwann dazu. Aber heute, gerade heute dürfen wir in Russland keinen Schritt tun, der unsere Gesellschaft spalten würde.“
Im heutigen Russland, das heißt: Im Land, das seit mehr als drei Jahren Krieg gegen die Ukraine führt, und dessen Führung im Inneren eine Hinwendung zu traditionellen Werten zelebriert. Seit Kriegsbeginn jedenfalls arbeitet Putin Lenin nicht mehr als den stolzen Gründer der Sowjetunion heraus, sondern als Staatsmann, der einen großen Fehler gemacht habe.
So sagte Putin etwa im Februar vergangenen Jahres im Interview mit dem ultrakonservativen US-Kommentator Tucker Carlson: „Die sowjetische Ukraine hat riesige Territorien bekommen, die nichts mit ihr zu tun hatten. Vor allem die nördliche Schwarzmeerküste. Die hatte Russland infolge der russisch-türkischen Kriege gewonnen. Lenin, der Gründer des sowjetischen Staates, hat so die Ukraine geschaffen.“
Das mögen Historiker anders sehen, die Beisetzung Lenins jedenfalls hat Putin nicht vorangetrieben. Es ist unwahrscheinlich, dass der Dokumentarfilm eines Kirchensenders daran etwas ändern wird: Die endgültige Schließung des Lenin-Mausoleums gilt in Russland einfach nicht als wichtiges Thema.
Auch wenn bei der Filmpremiere von „Die Mumie“ Vater Iossif vom vielleicht bekanntesten Männerkloster Russlands die Verbindung vom einbalsamierten Lenin zum nicht enden wollenden Krieg gegen die Ukraine zog: „Unser geistiger Beistand im Kloster von Optina Pustyn hat mehrmals gesagt, dass der Leichnam Lenins und das Mausoleum die geistige Atmosphäre bei uns vergiften.“ Und jetzt habe Lenin Russland sogar an einem Sieg gegen die Ukraine gehindert.
Lenin-Denkmäler gibt es überall in Russland – wie hier bei einem Schwimmbad in St. Petersburg. Doch im Lichte des Ukraine-Krieges wird das Erbe Lenins umgedeutet.