Stand: 04.08.2025 05:48 Uhr

Nach dem Attentat auf ein Konzert in der russischen Crocus City Hall beschuldigte Putin prompt die Ukraine – obwohl der IS sich dazu bekannt hatte. Die Festgenommenen zeigten starke Folterspuren. Heute beginnt der Prozess gegen sie.

Die in den sozialen Medien geteilten Bilder vom 22. März 2024 waren verstörend: Maskierte Männer schießen wahllos in eine Menge. Auf dem Boden ist Blut. Menschen versuchen, sich hinter roten Sesseln zu verstecken. Andere schreien, rennen panisch weg. Auf den Videos ist zu sehen, wie der Raum Feuer fängt.

Kurz vor 20 Uhr, nur wenige Minuten vor Konzertbeginn, hatten vier bewaffnete Männer die ausverkaufte Crocus City Hall gestürmt. Das Konzerthaus in Krasnogorsk nahe Moskau hat Platz für mehr als 6.000 Zuschauer.

Bei dem Anschlag starben 149 Menschen, auch als Folge des Brands. Mehr als 600 wurden verletzt. Der Angriff gilt als einer der schwersten auf russischem Boden seit der Geiselnahme in Beslan vor 20 Jahren.

Am Tag darauf gab der russische Geheimdienst FSB bekannt, dass Verdächtige festgenommen worden seien. Auf Telegram bekannte sich ein Ableger der Terrororganisation „Islamischer Staat“ zu dem Anschlag. Internationale Terrorexperten halten das Bekennerschreiben für echt.

149 Menschen starben bei dem schwersten Attentat in Russland seit 20 Jahren.

Putin beschuldigt Ukraine

Trotzdem zog der russische Präsident Wladimir Putin eine Verbindung zur Ukraine: Die Täter hätten versucht, „Richtung Ukraine“ zu fliehen – „wo nach vorläufigen Angaben für die Terroristen eine Möglichkeit von ukrainischer Seite vorbereitet wurde, die Staatsgrenze zu überqueren“.

Schnell präsentierte das staatliche Fernsehen Videos der mutmaßlichen Täter und von Verhören. Auf einem dieser Videos sagte einer der Festgenommenen, jemand habe ihn auf Telegram kontaktiert und eine halbe Million Rubel für die Tat geboten. Waffen und Fahrzeuge seien gestellt worden. Wer Auftraggeber war, wisse er nicht.

Deutliche Folterspuren

Im Laufe der Tage erschienen immer mehr Aufnahmen der Verdächtigen. Ihre Körper wiesen deutliche Folterspuren auf. Einer hatte eine Verletzung am Ohr, ein anderer ein stark geschwollenes Gesicht. Ein weiterer wurde dem Haftrichter im Rollstuhl vorgeführt. In den sozialen Medien kursierten Aufnahmen, die zeigten, wie ein Verdächtiger mit Elektroschocks im Genitalbereich misshandelt wurde.

Sergej Babinez leitet die Menschenrechtsorganisation Komitee gegen Folter, die sich für die Aufklärung von Folterfällen in Russland einsetzt. Er ist davon überzeugt, dass der russische Staat mit dem offenen Zeigen von Folterspuren sagen möchte: Wenn wir wollen, dann wenden wir auch illegale Gewalt und Folter an.

„Wenn es früher Misshandlungen gab, dann wurde sie nie veröffentlicht, sie wurden immer hinter verschlossenen Türen gelassen. Und jetzt das.“ Der gesamte Prozess seit der Verhaftung der Verdächtigen sei die ganze Zeit medial begleitet worden. „Die Videos wurden auch kommentiert. Und das alles in guter Qualität. Der Staat versucht uns zu zeigen, was sie mit Terroristen machen können, wenn sie wollen“, sagte Babinez.

Diese öffentliche Zurschaustellung soll laut Babinez einerseits potenzielle Nachahmer abschrecken – und andererseits der „aufgebrachten Öffentlichkeit“ Genugtuung verschaffen.

Gastarbeiter aus Tadschikistan

Die Männer sollen aus Tadschikistan stammen und als Gastarbeiter in Russland gelebt haben. Nach dem Anschlag verschärfte die russische Regierung ihren Kurs gegenüber Migranten und passte mehrere Gesetze im Zusammenhang mit ausländischen Staatsbürgern an.

Ende Juni 2025, rund einen Monat vor Prozessbeginn, verlas eine Moderatorin im staatlichen Fernsehen eine Erklärung des Ermittlungskomitees: „Die Ermittlungen haben ergeben, dass dieses unmenschliche Verbrechen im Interesse der derzeitigen Führung der Ukraine geplant und begangen wurde, mit dem Ziel, die politische Lage in unserem Land zu destabilisieren.“

Darüber hätten einige Angeklagte auch einen Anschlag auf einen Vergnügungskomplex in der Stadt Kaspijsk in der Republik Dagestan geplant, doch er sei vereitelt worden, so die Moderatorin. „Den Ermittlungen zufolge begannen die Vorbereitungen für den Terroranschlag in der Crocus City Hall bereits mehrere Monate vor dessen Ausführung.“

Beschuldigungen auch gegen den Westen

Demnach sollen die Täter im Ausland ausgebildet worden sein. In welchen Ländern konkret wird von keiner offiziellen Behörde genannt. Jedoch schreibt die staatliche Nachrichtenagentur TASS, wohl mit Berufung auf Gerichtsdokumente, dass die Ausbildung in der Türkei stattgefunden habe.

FSB-Direktor Alexander Bortnikow erklärte zudem, ukrainische und westliche Geheimdienste seien an dem Angriff beteiligt gewesen. Bis heute lieferten russische Behörden keine Beweise für eine Verbindung der Täter in die Ukraine oder ins westliche Ausland.

Vor Gericht stehen heute 19 Männer. Vier von ihnen gelten als Haupttäter, die übrigen als Komplizen. Sie alle befinden sich mittlerweile auf der nationalen Terrorliste.