Um schnell an Geld zu kommen, entführt die kalabrische Mafia in den Sechzigerjahren knapp 700 Menschen. Nicht alle überleben – so wie Cristina Mazzotti. Ein Prozess erinnert an die 18-Jährige und die Anfänge einer der gefährlichsten kriminellen Organisationen weltweit.
Fünfzig Jahre sind seit jener Nacht verstrichen, als Cristina Mazzotti von der kalabrischen Mafia entführt wurde. Sie war die erste Frau, die die ‚Ndrangheta entführte, davor beschränkte man sich auf männliche Geiseln. Mit den Entführungen baute sich die Mafia-Organisation, heute weitaus mächtiger und verzweigter als die sizilianische Cosa Nostra, ihr Startkapital auf.
Cristina war 18 Jahre alt und gerade mit dem Abitur fertig, als sie am 30. Juni 1975 entführt wurde. Sie lebte mit ihrer Familie in Mailand, im Sommer fuhr man in die Villa in Eupilio, einer Ortschaft in der Nähe vom Comer See. An jenem Abend hatte sie sich mit Freunden getroffen und bis Mitternacht unterhalten. Danach fuhr ihr Freund und sie und ihre Schwester nach Hause. An einer Abzweigung wurde ihnen jedoch der Weg abgeschnitten. Drei Männer sprangen aus einem Versteck, zwangen die Jugendlichen auf den Hintersitz und befahlen ihnen, auf den Boden zu schauen.
Nach ungefähr einer Stunde hielt der Fahrer an, einer der Männer fragte: „Welche von euch ist Cristina?“ Als das Mädchen sich zu erkennen gab, zogen die Mafiosi sie in ein anderes Auto und fuhren mit ihr davon. Nach einer Woche meldeten sich die Entführer und forderten fünf Milliarden Lire Lösegeld (Anm. d. Red.: in Euro umgerechnet und an heute angepasst wären das knapp 23 Millionen Euro).
Christinas Familie war sicher reich, aber so viel Geld besaß die Familie dann doch nicht. Vater Helios Mazzotti war ein großer Getreidehändler, jedoch kein Multimilliardär. Am Ende einigte man sich auf etwas mehr als 1 Milliarde Lire (circa 4,8 Millionen Euro heute), die der Vater dank einer von Freunden gestarteten Sammelaktion zusammenbringen konnte. Das Geld wurde am vereinbarten Ort hinterlegt, doch Cristina kam trotzdem nicht zurück.
Wochenlang in ein Loch gepfercht
Den Rekonstruktionen zufolge war das Mädchen zu jenem Zeitpunkt wahrscheinlich schon tot. Cristina hatte die ganze Gefangenschaft in einem 1,40 Meter tiefen und 2,5 Meter langen Loch verbringen müssen und wurde außerdem täglich mit Beruhigungspillen betäubt. Das alles erfuhren die Ermittler später von einem Hehler, der versucht hatte, einen Teil des Lösegelds in die Schweiz zu bringen. Er war es auch, der den Ermittlern sagte, wo die Leiche von Cristina ist.
Schon 1977 wurden 13 Freiheitsstrafen gegen Männer der ‚Ndrangheta verhängt. Ein Puzzlestein fehlte aber: die Klage gegen die Männer, die Cristina entführten. Es sind drei Calabresi, die bereits hinter Gittern sitzen. Vor ein paar Wochen hat die Staatsanwaltschaft ihr Abschlussplädoyer gehalten; im September ist die Verteidigung an der Reihe. Dann soll das Urteil fallen.
Abgeschnittenes Ohr als Drohung
Entführungen der ‚Ndrangheta gehörten von Mitte der Sechzigerjahre bis Anfang der Neunziger fast schon zur alltäglichen Berichterstattung. Während dieser Zeit entführte diese kriminelle Organisation fast 700 Menschen.
Zu den ersten Geiseln zählt auch der mittlerweile verstorbene John Paul Getty III. Gerade einmal 16 Jahre alt, wurde er am 10. Juli 1973 in Rom entführt. Dass es sich um einen Amerikaner handelte, noch dazu um einen Sprössling des Getty-Imperiums, sorgte für internationales Aufsehen.
Anfangs weigerte sich sein Großvater Jean Paul Getty, das geforderte Lösegeld von 17 Millionen US-Dollar (heute etwa 120 Millionen US-Dollar) zu bezahlen. Einerseits glaubte er, sein Enkel hätte die Entführung inszeniert; andererseits meinte er: „Ich habe 14 Enkelkinder, und wenn ich nur einen Penny Lösegeld bezahle, habe ich tags darauf alle anderen auch gekidnappt.“
Daraufhin schnitten die Entführer dem Jungen ein Stück Ohr ab und schickten es an die römische Tageszeitung „Il Messaggero“ mit der Drohung, sollte nicht bezahlt werden, würde man den Jungen in Stücken zurückgeben. Daraufhin zahlte Getty Senior, und zwar 2,89 Millionen Dollar. Am 15. Dezember 1973 wurde John Paul Getty wieder freigelassen. Die Geschichte dieser Entführung verfilmte Regisseur Ridley Scott. „Alles Geld der Welt“ kam 2017 heraus.
Zu Entführungen kam es in Rom, Neapel, Mailand und Pavia. Gefangen gehalten wurden die meisten Geiseln aber in der unwegsamen kalabrischen Bergregion des Aspromonte.
Und während sich die Clans der sizilianischen Cosa Nostra zunächst bekämpften und danach dem Staat den Krieg ansagten und unzählige Morde an Staatsdienern verübten, hortete die ‚Ndrangheta Unmengen an Geld.
Utopische Lösegeldforderungen
Wie viel Geld die „Entführungsindustrie“ der ‚Ndrangheta einbrachte, ist schwer zu sagen. Es muss ein Vermögen sein: Die Lösegeldforderungen lagen zwischen einer Milliarde und vier Milliarden Lire (das wären heute zwischen 4,5 und 18 Millionen Euro).
Das Geld ermöglichte es ihnen, ins lukrative Drogengeschäft einzusteigen – bis heute die ertragsreichste Geldquelle. Und in Bauvorhaben: So wurde etwa ein Teil des Getty-Geldes in ein Viertel der kalabrischen Gemeinde Bovalino investiert. Das Viertel trägt heute den Spitznamen „Paul Getty“.
Gegen Ende der 80er-Jahre begann die Zahl der Entführungen nachzulassen. Sicherheitskräfte und Ermittler übten mehr Druck aus, für die betroffenen Familien wurde es immer schwieriger, das Lösegeld zu bezahlen. Sobald die Entführung bekannt wurde, sperrten Gerichte die Konten der Betroffenen.
Zum anderen änderte die ‚Ndrangheta ihre Strategie: Man wollte weniger Aufmerksamkeit mehr auf sich ziehen, sondern im Verborgenen arbeiten. Jetzt hieß es, sich auszubreiten, ein Netzwerk aufzubauen, mit Handlangern weit über die Grenzen von Italien und Europa, über die USA nach Südamerika und weiter nach Kanada und Australien.
Die Strategie ist aufgegangen: Heute zählt die ‚Ndrangheta zu den mächtigsten und gefährlichsten kriminellen Organisationen weltweit. Wenngleich sie außerhalb Italiens noch immer unterschätzt wird.