Kiel. Grigory Sokolov, mit seinen 75 Jahren nach wie vor einer der international spannendsten Pianisten, spielt im Rahmen seiner Tourneen auch gern beim SHMF – am liebsten offenbar in Kiel.
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Auch diesmal ist die Petruskirche ausverkauft, gerät das Publikum aus dem Häuschen und erklatscht sich eine volle „dritte Konzert-Halbzeit“, also die rund 30 Minuten umfassende Höchstzahl von sechs Zugaben (alle in Moll: Chopins Mazurken op. 30/1, 50/3, 68/2 und 30/2, dazwischen Rameaus „Les Sauvages“, am Ende Chopins existenzielles, nur 13-taktiges c-Moll-Prélude op. 28/20). Auch diesmal verlässt, wer Ohren hat zu hören, das Konzert immens bereichert.
Grigory Sokolov in der Petruskirche Kiel: Wieder sechs Zugaben beim SHMF
Natürlich kann man immer wieder über Sokolovs Auftritts- und Zugabenrituale schreiben, über bestimmte charakteristische Spielbewegungen. So liest man es oft, aber es trifft den Kern seiner uneitlen Kunst und seiner klug-originellen Programme nicht.
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Der zweiten Programmhälfte mit frühem und späterem Brahms stellt er vor der Pause die um 1600 fürs Virginal – einen frühen kleinen Cembalotyp – komponierte Musik des englischen Shakespeare-Zeitgenossen William Byrd gegenüber.
Tiefenscharf: Sokolov zelebriert Tastenmusik des Shakespeare-Zeitgenossen Byrd
Die Diskussion, ob man solche Musik auf modernem Flügel spielen sollte, ist letztlich puristischer Smalltalk. Schon Pianisten wie Eduard Erdmann und Glenn Gould hatten ein Faible für Byrd. Sokolovs Spiel diverser Variationen, Pavanen mit Galliarden, einer Fantasie und einer „Almand“ zeigt, wie vielgestaltig, fantasievoll und zugleich kontrapunktisch gehaltvoll und bissfest diese Musik ist.
Sokolovs Ideal ist auch hier der gebundene, weithin kantenfreie, doch tiefenscharfe Klang, aus dem Byrds zahllose Trillerchen apart hervorlugen. Klar, man kann diese Musik noch pointierter, klangtrockener darbieten. Aber das könnte manieristisch wirken.
Hatte Sokolov 2023 Musik des englischen Frühbarock-Meisters Henry Purcell mitgebracht, so erlaubt seine diesmal noch rund ein Jahrhundert weiter in die Vergangenheit zurückreichende musikalische Reise fesselnde Einblicke in frappierende Tastenmusik des elisabethanischen Zeitalters.
Sokolov in Kiel: Sternstunde mit Klaviermusik von Johannes Brahms
Fantasiereichtum und Beherrschtheit bestimmen auf andere Weise auch die (längere) Brahms-Hälfte des Konzertes. Selten hört man die vier frühen Balladen op. 10 im Konzertsaal – und kaum einmal so berückend stimmig.
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In dieser Musik hat der 21-jährige Brahms seine jünglingshafte Empfindsamkeit und Zeitverlorenheit noch nicht hinter Bündigkeit, Bart und innerer Stoppuhr versteckt. Die Balance aus Versenkung und Vorwärtstreiben gelingt Sokolov schon im 1. Stück (nach der schottischen „Edward“-Ballade) atemberaubend – und ebenso der Kontrast aus schier grenzenlosem „Gesang“ und pointiertem Rhythmus in der 2. Ballade.
Droht im folgenden „Intermezzo“ die frei aufgefasste Sechsachtel-Bewegung fast in einen Vierviertel-Takt umzukippen, so hält Sokolov das Stück doch in der Schwebe zwischen dämonisch gefärbter Fantastik und entrückter Choral-Aura. Dass er für die Schlussballade mit ihrem elegischen Schmelzen zwischen Dur und Moll, ihrem zart vibrierenden meditativen Mittelteil und der chorhaften Verwandlung des Anfangsteils die nötige Ruhe und Sensibilität haben würde, ahnt man schon vorher und erlebt es nun bezaubert.
Auch die ein Vierteljahrhundert später entstandenen Rhapsodien op. 79 gelingen anschließend eindrucksvoll (wenngleich pianistisch nicht ganz so perfekt). Doch Sokolovs „Erzählung“ der lyrisch überhauchten Balladen wird zur eigentlichen Brahms-Stern(halb)stunde eines im diesjährigen SHMF-Panorama singulären Konzertabends.
KN