Erst gestern Abend hat Carmen R. mit ihrem Sohn wieder über das Thema gesprochen. Darüber, wie es ihm damals ging, als seine Schwester ins Krankenhaus musste, nachdem die Mutter bei ihr etwas im Bauch ertastet hatte. Auf dem Rad fuhr sie mit ihr in die Uniklinik, wo noch am selben Tag ein Tumor im Bauchraum gefunden wurde. Mit dem Fahrradhelm in der Hand ging es für sie und Frida hinüber ins Kinderkrebszentrum. Es folgten Bestrahlungen, Chemo, Operationen. 2022 war die Behandlung des Mädchens abgeschlossen. Aktuell gilt die Elfjährige als gesund. Mit ihren Freundinnen ist sie an diesem Vormittag im Klettergarten. Kürzlich war sie bei der Deutschen Meisterschaft im Ultimate Frisbee am Start. „Es sieht alles gut aus“, sagt Carmen R. Und doch macht sich die Mutter Sorgen. Weniger um Frida als um ihren achtjährigen Bruder. Denn selbst wenn er nicht das erkrankte Kind war, hat die Behandlung seiner Schwester auch bei ihm Spuren hinterlassen.
Mit der Krebsdiagnose seiner Schwester veränderte sich auch Joakims Leben
Wenn man Joakim heute fragt, wie das war, als Frida krank war, dann sagt er, dass es sich damals nicht so schlimm für ihn angefühlt hat. Denn da habe er noch nicht gewusst, dass man an einem Tumor sterben kann. Gerade vier war er, als seine Schwester ins Krankenhaus kam. Vom einen auf den anderen Tag änderte sich mit ihrer Krebsdiagnose auch sein Leben. „Er konnte ein Jahr lang nicht in den Kindergarten, weil die Ansteckungsgefahr für Frida sonst zu groß gewesen wäre“, erzählt die Mutter. Nachdem der Vater gerade auf Arbeitssuche war, die Mutter als Lehrerin aufgrund der Pandemie viel von Zuhause aus arbeiten konnte, konnten sich die Eltern die Betreuung der Kinder aufteilen. Einer war immer bei Frida, einer bei Joakim. Zu einer mehrwöchigen Behandlung in der Uniklinik in Essen zog die ganze Familie mit. Auch Joakim lebte neun Wochen im Ronald-McDonalds Haus. „Da konnte man toll spielen“, erinnert sich der Achtjährige.
Erst nach Abschluss der Behandlung zeigten sich die Auswirkungen
Carmen R. weiß, was für ein Segen es war, dass sie diese schwere Zeit alle gemeinsam, als Familie, durchleben konnten. Denn häufig sei diese Aufteilung gar nicht möglich. „Meistens ist es so, dass einer beim Kind im Krankenhaus ist und der andere arbeitet. Die Geschwister werden dann von Oma, Onkel oder andere Verwandten betreut. Bis auf den Tag der großen OP haben wir ihn nie abgegeben. Und trotzdem hat das alles riesigen Auswirkungen auf ihn gehabt.“
Während der Erkrankung seiner Schwester, erzählt die Mutter, sei Joakim sehr stabil gewesen. „Es gibt Bilder, da ist er freudestrahlend im Krankenhaus unterwegs. Trotz allem war die Stimmung sehr leicht.“ Erst als es Frida besser ging, zeigten sich bei ihrem Bruder die Auswirkungen ihrer Erkrankung. Er entwickelte einen Tic, bei dem sich manchmal die Augen unkontrolliert zur Seite wegdrehen, traute sich nicht mehr allein in den ersten Stock, brauchte sehr viel Sicherheit und Nähe, konnte sich nur noch schwer von den Eltern lösen. Aus einem verspielten und gelassenen Bub sei ein Kind geworden, das sehr stark unter Druck steht. „Sein Urvertrauen wurde in dieser Zeit einfach beschädigt. Wir sehen, dass er Zeit braucht, um sich wieder Sicherheit zu erarbeiten.“
„Der Geschwisterclub war ein absolutes Geschenk“
Diese Zeit geben ihm die Eltern. Und die bekommt er auch bei einem ganz speziellen Projekt des „Bunten Kreises“ auf dem Ziegelhof vor den Toren von Augsburg. Dort gibt es den GeschwisterClub, der sich speziell an gesunde Geschwister von Kinder und Jugendlichen mit einer schweren oder chronischen Erkrankung oder Behinderung richtet. Erfahren hat Carmen R. davon auf der Kinderkrebsstation der Uniklinik. „Mir war nicht bewusst, das Augsburg, auch mit dem Institut für Sozialmedizin in der Pädiatrie, hier Vorreiter ist“, sagt die Mutter. Auch die Stiftung Kartei der Not hat in Augsburg ein Projekt für Geschwisterkinder. Das Angebot des Bunten Kreises sei ein absolutes Geschenk für Joakim gewesen, sagt seine Mutter. Denn während das erkrankte Kind, betreut durch Ärzte und Psychologen, die Chance habe, mit der Krankheit mitzuwachsen und aktiv in das Geschehen eingebunden sei, stünden die Geschwister mit ihren Ängsten und Bedürfnissen oftmals trotz aller elterlichen Bemühungen im Schatten.
Der Geschwisterclub gibt den Kindern Raum für ihre Bedürfnisse
Der Geschwisterclub stellt diese Kinder in den Mittelpunkt. Bei Workshops kommen sie auf dem Ziegelhof zusammen – mit viel Erlebnispädagogik und Kontakt zu Tieren, wie Katharina Grunau erzählt. Sie ist Fachkraft für Geschwister und tiergestützte Pädagogik. Zusammen mit ihren Kolleginnen und Kollegen gibt sie bei diesen Treffen immer wieder kleine Anstöße, damit die Kinder sich darüber austauschen können, wie es ihnen aktuell geht. Als Bruder oder Schwester eines Kindes, das krebskrank ist, schwere Depressionen hat, im Rollstuhl sitzt oder Autist ist. „Wenn die Kinder wollen, dann können sie drüber reden.“
Oft, sagt Grunau, wirken diese Kinder viel älter als sie eigentlich sind, sind verständnisvoll und empathisch, haben gelernt, sich und ihre eigenen Bedürfnisse zurückzustellen, wissen wie man dem Bruder oder der Schwester im Notfall hilft. Die Angebote im Geschwisterclub sollen ihnen Raum für sich selbst geben und Kontakt zu anderen ermöglichen, denen es ähnlich geht. „Wir sprechen darüber, wie man mit der Erkrankung des Geschwisterkinds umgehen kann, wie man sich selbst stärken und für sich sorgen kann. Wie man den Eltern klar kommunizieren kann: Das brauche ich gerade von euch.“
Joakim selbst schwärmt vom Bunten Kreis. Von den tiergestützten Therapien, bei denen die Kinder mit Hasen, Meerschweinchen oder den gemächlichen Achatschnecken in Kontakt kommen. „Es geht mir gut, weil Frida wieder gesund ist“, sagt er und seine Mutter wuschelt ihm mit einem Lächeln durch das Haar. Sie weiß: Heilung braucht Zeit. Auch bei Joakim.
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Katharina Indrich
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Augsburg
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