Im Mai gab der britische Premierminister Keir Starmer bekannt, dass seine Labour-Partei „jeden Bereich des Einwanderungssystems“ verschärfen werde. Schließlich bestehe die Gefahr, dass das Vereinigte Königreich „zu einer Insel von Fremden“ werde. Dabei zeigte Starmer weder populistisches Charisma noch die „strukturierte, evidenzbasierte“ Politik, die er im Wahlkampf versprochen hatte. Zwei Monate später tweetete er erneut, er werde „hart durchgreifen“ gegen Arbeiter ohne Papiere, die für einen Hungerlohn schuften. Damit wolle er „Fairness sichern“. Allerdings passt das Wort „Fairness“ schlichtweg nicht zu Starmers Aussagen. Wir sehen hier einen Regierungschef, dem es um den eigenen politischen Erfolg geht, nicht um Fortschritt.
Wie ist es dazu gekommen, dass die Linke in Migrationsfragen der radikalen Rechten nachplappert, ausländische Personen mit menschenverachtender Sprache abwertet und sie für ein System verantwortlich macht, das schon vor ihrer Ankunft nicht funktioniert hatte? Der politische Erfolg von migrationsfeindlichen Narrativen, mit denen unzählige, größtenteils anständige, manchmal verzweifelte Menschen verteufelt werden, beruht auf einem kleinen Stückchen Wahrheit, das mit einer großen Portion Übertreibung und Verschweigen vermischt wird.
Die Rekordzahl an Nettozuwanderung setzte sich in erster Linie aus Arbeits- und Studierendenvisa zusammen, die über das nach dem Brexit eingeführte Punktesystem vergeben wurden.
Der britische Premierminister kritisierte die „unglaublichen“ Nettozuwanderungszahlen in „einem Land, das für Kontrolle gestimmt hatte“. Er monierte weiter, das Vereinigte Königreich habe ein „Eine-Nation-Experiment mit offenen Grenzen“ durchlaufen. Solche Aussagen sind jedoch irreführend. Die tatsächliche Rekordzuwanderung in das Vereinigte Königreich wurde nicht durch „unkontrollierte“ Grenzen verursacht, sondern durch eine kontrollierte und bewusste Strategie, bei der wirtschaftliche über menschliche Interessen sowie gut wirkende BIP-Zahlen über tatsächliche Lebensbedingungen gestellt werden. Die Rekordzahl an Nettozuwanderung (906.000 Personen im Jahr 2023) setzte sich in erster Linie aus Arbeits- und Studierendenvisa zusammen, die über das nach dem Brexit eingeführte Punktesystem vergeben wurden. Diese fälschlicherweise als „progressiv“ bezeichnete, marktfreundliche Migration verfolgt das rückständige Ziel, Menschen mit weniger Arbeitnehmerrechten zum Zwecke der ökonomischen Ausbeutung anzuwerben. Wie Starmer zu Recht beklagt, hat dies zu einem Rückgang der lokalen Löhne geführt. Er mag Recht haben, wenn er dies als „unglaublich“ bezeichnet, aber es war alles andere als unkontrolliert.
Das Wort „unkontrolliert“ passt viel eher zu Asylsuchenden, die in kleinen Booten oder versteckt in Lastwagen einzureisen versuchen. Doch diese Art der Einwanderung gleicht keineswegs einer Massenimmigration. Tatsächlich macht sie weniger als zehn Prozent der Nettozuwanderung im Vereinigten Königreich und 0,05 Prozent der globalen Vertreibungsströme aus. Überfahrten über den Ärmelkanal sind eine unvermeidliche Folge des Mangels an legalen Routen für neun der zehn Länder, aus denen 90 Prozent der Vertriebenen weltweit stammen. Ihrer Alternativen beraubt, ertranken im vergangenen Jahr 82 Menschen vor den Küsten Großbritanniens, darunter 14 Kinder. Starmers unlautere Gleichsetzung von umfangreicherer legaler Einwanderung mit deutlich geringerer „illegaler Einwanderung“ ist ein gängiges Mittel von Politikern und Presse. Es sei hier angemerkt, dass Asylsuche nach internationalem Recht nach wie vor legal ist. Ob aus Unaufrichtigkeit oder Inkompetenz: Durch die Kombination möglichst großer Zahlen mit „möglichst invasionsähnlichen“ Bildern wird die Angst der Öffentlichkeit geschürt – und eine rationale Politikgestaltung sabotiert.
Viele Vorschläge, mit denen Starmer zu punkten versucht, erreichen dementsprechend wenig – außer dass diejenigen am unteren Ende der Gesellschaft benachteiligt werden. In seiner Rede über die „Insel von Fremden“ betonte er, Einwanderer müssten sich integrieren. Gleichzeitig verdoppelte er die Wartezeit für die Beantragung der Staatsbürgerschaft – den emotional gewichtigsten Integrationsprozess, mit dem die Sprach- und Kulturkenntnisse der Antragsteller auf den Prüfstand gestellt werden. Im Juli stand Starmer neben dem französischen Präsidenten Macron und kündigte ein „bahnbrechendes“ Abkommen zur Abschiebung an. Geflüchtete, die in Frankreich einen Einreiseantrag für das Vereinigte Königreich stellen, sollen gegen diejenigen ausgetauscht werden können, die zuvor illegal die Grenze überquert hatten. Diese Logik ist absolut widersinnig: Es braucht demnach „illegale“ Grenzübertritte, damit legale Migration zugelassen wird.
Während Starmers Politik als unzureichend bezeichnet werden kann, ist seine Rhetorik absolut unverzeihlich.
Während Starmers Politik als unzureichend bezeichnet werden kann, ist seine Rhetorik absolut unverzeihlich. Während er früher in der Opposition das Image eines Langweilers hatte, der aber zumindest besonnen agierte, spricht er heute mit seinen markigen Worten eher Radikale an als Realisten. Sollte es im Vereinigten Königreich wie im vergangenen Jahr erneut zu Unruhen kommen, bei denen Menschen mit bestimmten Hautfarben auf der Straße angegriffen wurden, trägt der Premierminister einen Großteil der Schuld dafür. Denn er hat die Nettozuwanderung als ein „schmutziges Kapitel für unsere Politik, unsere Wirtschaft und unser Land“ bezeichnet. Das steht in direktem Gegensatz zur Analyse und zu den Ansätzen, dank derer er überhaupt ins Amt gewählt wurde. Im Wahlprogramm hatte Labour die Einwanderung bewusst nicht unter den fünf wichtigsten Themen gelistet. Ganz oben auf der Liste stand die unterfinanzierte und reformbedürftige öffentliche Infrastruktur. Doch seit seinem Amtsantritt hat Starmer mehrere der eigentlich geplanten „ersten Schritte“ zurückgenommen, von der Einstellung von Lehrpersonal und Gemeindepolizisten bis zu einem Ende der Steuervergünstigungen für nicht im Land ansässige britische Millionäre. Ebenso wie die Konservativen zuvor – die 80 Prozent der Projekte zur Verbesserung der Lebensbedingungen in den ärmeren Regionen Großbritanniens nicht umgesetzt haben – hat Labour eine Entscheidung getroffen: Sündenböcke finden statt sinnvolle Ausgaben tätigen.
Es gibt berechtigte Bedenken hinsichtlich Migration. Unüberlegte und nicht adäquat gehandhabte Massenmigration hat komplexe Auswirkungen auf öffentliche Dienstleistungen, Arbeitnehmerrechte, Wohnraum und Sicherheit. Doch die mit „Masseneinwanderung“ in Verbindung gebrachte soziale Instabilität wird meist künstlich erzeugt: So erzielt die deutsche AfD bei Wahlen besonders gute Ergebnisse in Regionen, in denen es vergleichsweise wenig Zuwanderung gibt. Ungarn mit seiner ebenfalls rückläufigen Bevölkerung hat die wohl einwanderungsfeindlichste Regierung Europas. Berechtigte Sorgen werden mit Xenophobie, Rassismus, territorialem Anspruchsdenken und der Suche nach Sündenböcken vermischt. Damit eine Migrationspolitik funktioniert, muss sie berechtigte Sorgen von ungerechtfertigter Angst und Hass trennen.
Hinter Starmers Maßnahmen mögen einige wenig gerechtfertigte Bedenken stehen – beispielsweise wenn er verhindern will, dass Unternehmen „billige Arbeitskräfte importieren, anstatt in die Qualifikation der Menschen zu investieren, die bereits hier sind“. Doch der aggressive Chauvinismus des Premierministers würde selbst das vernünftigste System mit dem echten Ziel, sozialen Zusammenhalt zu fördern, zum Scheitern bringen. Für Starmer haben Migranten die Schuld – und nicht diejenigen Privilegierten, die die britische Arbeiterklasse und Neuankömmlinge gleichermaßen ausbeuten. Deshalb sind die Reformvorschläge von Labour weder progressiv noch ein angemessener Versuch der Partei, sich ihrer traditionellen Unterstützerbasis in der Arbeiterklasse wieder anzunähern.
Eine wirklich progressive Migrationspolitik muss in sozialer Gerechtigkeit, globalen Lösungen und wirtschaftlicher Dynamik verankert sein. Das bedeutet in erster Linie, niemals Xenophobie zu schüren. Einwanderung kann ein Segen oder eine Belastung sein – das hängt weitgehend davon ab, wie wir damit umgehen. Und ob es uns gefällt oder nicht: Sie ist für unsere alternden Gesellschaften ebenso unverzichtbar wie in einer globalisierten Welt unvermeidbar. Aber sie kann niemals in einer Gesellschaft erfolgreich vonstattengehen, die Ausländer fürchtet oder ablehnt. Zweitens muss in der Migrationspolitik verstanden werden, dass globale Probleme globale Lösungen erfordern. Angesichts der wachsenden Flüchtlingskrisen kann es keine Lösung sein, die Grenzen zu schließen und den Kopf in den Sand zu stecken. In Abstimmung mit Partnerstaaten muss verfügbarer Platz nach Kapazitäten berechnet werden; Menschen mit Bedarf und Integrationswillen müssen entsprechend verteilt werden. Eine solche Migrationspolitik muss Rücküberweisungen und andere Unterstützung zulassen, um diejenigen Personen zu stärken, die näher an ihrer Heimat bleiben. So bekämpft man auch Menschenhandel. Dieser wäre der einzige Grund, der das Blockieren von Einreisen rechtfertigen würde.
Schließlich begrüßt ein progressives System die Wirtschaftsmigration, es versteht aber auch, dass ihr Tempo mit knapper werdenden Ressourcen Schritt halten muss. Eine Lösung muss rechtsbasiert sein: Wenn ein Staat allen Arbeitnehmern unabhängig von ihrer Herkunft gleiche Arbeitsrechte garantiert, wären Unternehmen motiviert, ihre Angestellten nach Leistung und nicht nach Ausbeutbarkeit einzustellen. Die Wirtschaftsmigration würde zwar anhalten, sich aber verlangsamen. Dies würde den für einen gesunden Sozialstaat notwendigen Unternehmergeist fördern sowie Feindseligkeiten zwischen arbeitslosen Einheimischen und ausgebeuteten Ausländern unterbinden. Nicht zuletzt muss die Freizügigkeit erhalten bleiben – Personen aus dem Westen halten sie oft für gegeben. Auch für mich ist Freizügigkeit selbstverständlicher Teil einer Welt, in der ich leben möchte.
Aus dem Englischen von Tim Steins.
Lesen Sie in der Debatte auch den Gegenbeitrag Ordnung schafft Zusammenhalt von Claire Ainsley.