Es war die erste organisierte Deportation von als jüdisch verfolgten Menschen im Nationalsozialismus: Die sogenannte Polenaktion, bei der im gesamten Deutschen Reich am 28. und 29. Oktober 1938 in einer Massenaktion rund 25.000 Menschen nach Polen ausgewiesen wurden. In Nürnberg und Fürth wurden insgesamt 273 jüdische Bewohner in den frühen Morgenstunden des 28. Oktober 1938 von Gestapo und Schutzpolizisten aus ihren Wohnungen geholt.
„Das Thema ist bei Historikern hinten runtergefallen“, sagt Rebekka Eberhardt. Sie hat für ihre Masterarbeit an der Freien Universität Berlin das Schicksal der sogenannten Ostjuden im nationalsozialistischen Deutschland unter die Lupe genommen. Die entstandene Ausstellung, die zunächst vom Verein „Aktives Museum Faschismus und Widerstand“ nur für Berlin gedacht war, wurde wegen des großen Interesses zu einer Wanderausstellung.
Für Nürnberg, die erste und bislang einzige geplante Station in Bayern, übernahm Eberhardt die Aufbereitung jüdischer Schicksale und schildert die Lebenswege dreier jüdischer Familien aus der Region. Bis zum 12. Oktober ist die Ausstellung im Stadtarchiv zu sehen.
Polnische Juden wussten nicht, was passiert
Als in Nürnberg und Fürth der Ausweisungsbefehl kam, „wussten die polnischen Juden überhaupt nicht, was passiert“, fasst Eberhardt die Überrumplung zusammen. Hanni Gutkind, jüngste Tochter des Schuhmachermeisters Abraham Gutkind, überlebte das Dritte Reich und erinnerte sich 1960, wie ihre Eltern und ihre größere Schwester Regina ohne vorherige Ankündigung mitten in der Nacht nach Polen abgeschoben wurden.
„Es bestand dabei keine Möglichkeit für meinen Vater, noch einmal in seinen Laden zu gehen. Es blieb daher darin alles so, wie er ihn bei Arbeitsschluss am Abend zuvor verlassen hatte.“
Ein Sonderzug brachte sie mit anderen Nürnbergern und Fürthern nach Neu-Bentschen (heute: Zbaszynek), wo sie zum Grenzübertritt gezwungen wurden.
Ähnlich erging es der Fürther Familie Landau. Hermann Landau und seine Eltern wurden um 7 Uhr morgens in ihrer Wohnung von Fürther Schutzpolizisten verhaftet. Auch sie blieben völlig im Unklaren, als sie in den Sonderzug verfrachtet wurden, berichtet Rebekka Eberhardt: „Ihnen wurde nicht mitgeteilt, dass sie abgeschoben werden sollten. Sie hatten daher weder Gepäck noch Geld bei sich.“
Rechnung für die Reisekosten der Abschiebung
Sowohl Gutkind als auch Landau durften Monate später noch einmal zurück, um ihre hinterlassenen Angelegenheiten zu regeln. Gutkind musste jedoch feststellen, dass seine Werkstatt inklusive beachtlicher Lederbestände bereits geräumt und weitervermietet worden war. Sein Vermögen war von den NS-Behörden beschlagnahmt. Landau erging es vergleichbar.
Bei seiner Rückkehr entdeckte er, dass Gegenstände aus der Fürther Wohnung entwendet worden waren. Die Anzeige verlief ergebnislos. Stattdessen bekam er vom Fürther Polizeiamt eine Rechnung in Höhe von 45,90 Reichsmark für die „Reisekosten“ der Abschiebung im Oktober 1938. Hermann Landaus Eltern wurden im Vernichtungslager Belzec ermordet, die Spuren der Gutkinds verlieren sich in Treblinka.
Die Ausstellung „Ausgewiesen“ zeigt auch, wie Jüdinnen und Juden 1938 zum Spielball zwischen Polen und dem Dritten Reich wurden. Nach der Annexion Österreichs durch die Nazis im Frühjahr verabschiedete Polen das „Märzgesetz“, erzählt die Historikerin Eberhardt. Es entzog zum Ende Oktober des Jahres allen Polen die Staatsbürgerschaft, die dauerhaft länger als fünf Jahre im Ausland gelebt hatten. Dieses Gesetz sollte verhindern, dass polnische Juden aus den annektierten Gebieten zurück nach Polen kamen – man wollte sie schlicht nicht im Land haben. Die „Polenaktion“ der Nazis war eine direkte Reaktion auf das Gesetz. Allein in Österreich lebten damals rund 20.000 Juden aus Polen. Vor Ende der Frist am 30. Oktober wollte man möglichst viele zurück dorthin abschieben.
Migration aus Osteuropa nach Deutschland
Deutschland war bereits seit dem späten 19. Jahrhundert ein zentrales Ziel für Migration aus dem Osten Europas. „Familien aus dem damaligen Galizien und dem heutigen Gebiet der Ukraine flüchteten beispielsweise aufgrund von zunehmenden Pogromen und Ausschreitungen im Russischen Reich oder wirtschaftlicher Not“, weiß Eberhardt. Allein aus dem damaligen Russland emigrierten über zwei Millionen Juden. Dabei sei das Deutsche Reich für viele nur ein Zwischenstopp auf dem Weg in die USA, nach Kanada oder Südamerika gewesen.
Die Ausstellung wirft auch Schlaglichter auf die Nachkriegsgeschichte. Hanni Gutkind, inzwischen mit Scholem Friedmann verheiratet, kehrte in den 1950er Jahren zurück nach Fürth. Ihr Antrag auf Entschädigung wurde zunächst abgelehnt, da laut den deutschen Behörden „Nachweise für nationalsozialistische Verfolgungsmaßnahmen“ fehlten. Die damalige Argumentation: „Es waren keine deutschen Jüdinnen und Juden, sondern Polen.“ Erst nach längerem Rechtsstreit gab es eine Teilentschädigung.
Für die Historikerin Eberhardt ist das Kapitel „Polenaktion“ mit der Wanderausstellung längst nicht abgeschlossen. „Es müsste noch mehr aufgearbeitet werden“, sagt sie.