Wer trägt die Mehrkosten für das Großprojekt Stuttgart 21? Mit Klagen versuchte die Bahn, die Projektpartner dazu zu zwingen, sich daran zu beteiligen. Nun entschied ein Gericht: Die Bahn muss zahlen.
Von Dorina Blau, Samantha Ngako
Seit Jahren versucht die Bahn, die Projektpartner mit einer Klage zu einer Beteiligung an den milliardenschweren Mehrkosten von Stuttgart 21 zu zwingen. Nun ist klar: Die Bahn muss zahlen. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg lehnte den Antrag auf Zulassung der Berufung der Bahn gegen ein entsprechendes Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart ab.
Das Verwaltungsgericht hatte im Mai vergangenen Jahres entschieden, dass die Bahn keinen Anspruch darauf hat, dass sich die Partner des Projektes an den Mehrkosten beteiligen müssen. Eine entsprechende Klage der Bahn gegen das Land Baden-Württemberg, die Stadt Stuttgart, den Verband Region Stuttgart und den Flughafen Stuttgart hatte das Gericht damals abgewiesen. Dagegen hatte die Bahn Rechtsmittel eingelegt und beim Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt.
Gericht: Keine Zweifel an Richtigkeit des Urteils
Diesen Antrag lehnte der VGH nun ab. Die Deutsche Bahn habe keine Gründe vorgelegt, die eine Zulassung der Berufung rechtfertigten, so das Gericht. Es bestünden „keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils“, Verfahrensfehler lägen nicht vor. Das Stuttgarter Urteil sei damit rechtskräftig.
Die Entscheidung des höchsten Verwaltungsgerichts in Baden-Württemberg ist unanfechtbar – damit ist der verwaltungsgerichtliche Weg für die Bahn einer Gerichtssprecherin zufolge ausgeschöpft. Theoretisch sei es noch möglich, dass die Bahn vor das Bundesverfassungsgericht ziehe, so die Gerichtssprecherin. Die Deutsche Bahn teilte dem SWR mit, dass sie die umfassende Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs nun prüfe. Bis zum Abschluss dieser Prüfung könne man sich nicht äußern.
S21 kostet rund 11 Milliarden Euro
Auf die Bahn dürften Milliardensummen zukommen. Der Konzern, der offiziell Bauherr von Stuttgart 21 ist, beziffert die Gesamtkosten für das Projekt derzeit auf rund 11 Milliarden Euro und hat zusätzlich einen Puffer von 500 Millionen Euro einkalkuliert. In einem Finanzierungsvertrag aus dem Jahr 2009 ist jedoch nur die Verteilung von Kosten bis zu einer Höhe von gut 4,5 Milliarden Euro geregelt. Die Mehrkosten von derzeit mindestens 6,5 Milliarden Euro dürften nach dem Urteil bei der Bahn hängen bleiben. Der eigentlich geplante Eröffnungstermin Dezember 2026 kann auch nicht eingehalten werden.
Verkehrsminister Hermann: „Gesprochen haben wir genug, gezahlt auch“
Die Regierung von Baden-Württemberg hat das Urteil mit Zufriedenheit aufgenommen. Der Verwaltungsgerichtshof habe bestätigt, „was wir seit Jahren sagen: Die Bahn ist als Projektträgerin alleine für die Mehrkosten verantwortlich“, erklärte Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) am Dienstag in Stuttgart. „Gesprochen haben wir genug, gezahlt auch. Es war dringend Zeit, dass das jetzt auch juristisch ausdiskutiert ist.“ Die Landesregierung habe der Bahn „immer und immer wieder klar gesagt“, dass sie sich nicht an Mehrkosten beteiligen werde, die über den vereinbarten Kostendeckel hinausgehen, so Hermann. „Die Klage hatte von Anfang an keine Grundlage, es gab einen klaren Vertrag.“
Die Flughafen Stuttgart GmbH begrüßt ebenfalls die Entscheidung. „Der Flughafen hat insgesamt 359 Millionen Euro für das Gesamtprojekt investiert, für unser Unternehmen ein hoher Beitrag“, so der Airport gegenüber dem SWR. Bereits im Jahr 2018 habe man die letzten Zahlungen geleistet und damit die vertraglichen Verpflichtungen vollständig erfüllt.
Boris Palmer warnt: Kosten bleiben an Bahnkunden hängen
Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer warnte unterdessen vor Schadenfreude. Dass die Bahn die Kosten zahlen muss, „darüber könnte man sich ja freuen, wenn das nicht hieße, dass die Bahnkunden am Ende für den Unsinn aufkommen müssen“, schreibt er auf Facebook. Palmer, jetzt parteilos, früher bei den Grünen, hatte in den Jahren 2010 und 2011 als Vertreter der Projektgegner an der Schlichtung zu S21 im Stuttgarter Rathaus teilgenommen und sich maßgeblich beteiligt. Das Ganze sei ein „Trauerspiel“, kritisiert Palmer Planung und Bau des Bahnprojekts. „Selten gab es eine größere Fehlentscheidung.“
Knackpunkt: Wie ist die sogenannte Sprechklausel zu verstehen?
Im Zentrum des Rechtsstreits zwischen Bahn und Projektpartnern stand die Auslegung einer sogenannten Sprechklausel im 2009 geschlossenen Finanzierungsvertrag. Diese war für den Umgang mit möglichen Kostensteigerungen vereinbart worden. Darin heißt es: „Im Falle weiterer Kostensteigerungen nehmen die Eisenbahninfrastrukturunternehmen und das Land Gespräche auf.“
Dieser Ansicht war auch das Stuttgarter Gericht. Die Projektpartner hätten im Falle von Mehrkosten ausdrücklich die Aufnahme von Gesprächen verabredet, sagt der Vorsitzende Richter bei der Urteilsverkündung im Mai 2024. Daraus könne keine Verhandlungspflicht oder gar ein Anspruch auf Vertragsanpassung abgeleitet werden.
Neuer Tiefbahnhof, zahlreiche Tunnel
Das Projekt Stuttgart 21 steht nicht nur für den Bau des neuen Hauptbahnhofs in der Landeshauptstadt, sondern für die komplette Neuordnung des Bahnknotens Stuttgart. Gebaut werden neue Bahnhöfe – etwa ein neuer Fernbahnhof am Flughafen -, Dutzende Kilometer Schienenwege und Tunnelröhren, Durchlässe sowie Brücken.
Das Bahnprojekt Stuttgart-Ulm schließt neben Stuttgart 21 auch den Neubau der bereits 2022 eröffneten Schnellfahrstrecke Wendlingen-Ulm ein. Herzstück von Stuttgart 21 ist der neue unterirdische Hauptbahnhof, der im Gegensatz zum bisherigen Kopfbahnhof ein Durchgangsbahnhof sein wird. Gebaut wird an dem Projekt bereits seit 2010. Die Inbetriebnahme war bereits mehrfach verschoben worden. Vor wenigen Wochen hatte die Bahn angekündigt, Stuttgart 21 Ende 2026 nur teilweise in Betrieb nehmen zu wollen.
Sendung am Di., 5.8.2025 10:00 Uhr, SWR4 am Vormittag, SWR4
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