Die Deutsche Bahn muss die milliardenschweren Mehrkosten des Bahnprojekts Stuttgart 21 alleine tragen. Die Projektpartner zeigen sich erleichtert.
Seit Jahren versucht die Bahn, die Projektpartner mit einer Klage zu einer Beteiligung an den milliardenschweren Mehrkosten von Stuttgart 21 zu zwingen. Nun ist klar: Die Bahn muss zahlen. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg lehnte den Antrag auf Zulassung der Berufung der Bahn gegen ein entsprechendes Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart ab.
Das Verwaltungsgericht hatte im Mai vergangenen Jahres entschieden, dass die Bahn keinen Anspruch darauf hat, dass sich die Partner des Projektes an den Mehrkosten beteiligen müssen. Eine entsprechende Klage der Bahn gegen das Land Baden-Württemberg, die Stadt Stuttgart, den Verband Region Stuttgart und den Flughafen Stuttgart hatte das Gericht damals abgewiesen. Dagegen hatte die Bahn Rechtsmittel eingelegt und beim Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg einen Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt.
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Ab Dezember 2026 sollen ICE-Züge planmäßig durch den neuen Tiefbahnhof fahren. Der Kopfbahnhof bleibt vorerst weiter in Betrieb. S-Bahn-Fahrgäste müssen mit Einschränkungen rechnen.
Gericht: Keine Zweifel an Richtigkeit des Urteils
Diesen Antrag lehnte der VGH nun ab. Die Deutsche Bahn habe keine Gründe vorgelegt, die eine Zulassung der Berufung rechtfertigten, so das Gericht. Es bestünden „keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils“, Verfahrensfehler lägen nicht vor. Das Stuttgarter Urteil sei damit rechtskräftig.
Die Entscheidung des höchsten Verwaltungsgerichts in Baden-Württemberg ist unanfechtbar – damit ist der verwaltungsgerichtliche Weg für die Bahn einer Gerichtssprecherin zufolge ausgeschöpft. Theoretisch sei es noch möglich, dass die Bahn vor das Bundesverfassungsgericht ziehe, so die Gerichtssprecherin. Die Deutsche Bahn teilte dem SWR mit, dass sie die umfassende Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs nun prüfe. Bis zum Abschluss dieser Prüfung könne man sich nicht äußern.
S21 kostet rund 11 Milliarden Euro
Auf die Bahn dürften Milliardensummen zukommen. Der Konzern, der offiziell Bauherr von Stuttgart 21 ist, beziffert die Gesamtkosten für das Projekt derzeit auf rund 11 Milliarden Euro und hat zusätzlich einen Puffer von 500 Millionen Euro einkalkuliert. In einem Finanzierungsvertrag aus dem Jahr 2009 ist jedoch nur die Verteilung von Kosten bis zu einer Höhe von gut 4,5 Milliarden Euro geregelt. Die Mehrkosten von derzeit mindestens 6,5 Milliarden Euro dürften nach dem Urteil bei der Bahn hängen bleiben. Der eigentlich geplante Eröffnungstermin Dezember 2026 kann auch nicht eingehalten werden.
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Ab Ende 2026 sind in Stuttgart zeitweise zwei Bahnhöfe in Betrieb. Von „auf dem Rücken der Fahrgäste“ bis „In den sauren Apfel beißen“ – so reagiert die Lokalpolitik auf das Thema.
Verkehrsminister Hermann: „Gesprochen haben wir genug, gezahlt auch“
Die Regierung von Baden-Württemberg hat das Urteil mit Zufriedenheit aufgenommen. Der Verwaltungsgerichtshof habe bestätigt, „was wir seit Jahren sagen: Die Bahn ist als Projektträgerin alleine für die Mehrkosten verantwortlich“, erklärte Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) am Dienstag in Stuttgart. „Gesprochen haben wir genug, gezahlt auch. Es war dringend Zeit, dass das jetzt auch juristisch ausdiskutiert ist.“ Die Landesregierung habe der Bahn „immer und immer wieder klar gesagt“, dass sie sich nicht an Mehrkosten beteiligen werde, die über den vereinbarten Kostendeckel hinausgehen, so Hermann. „Die Klage hatte von Anfang an keine Grundlage, es gab einen klaren Vertrag.“
Die Flughafen Stuttgart GmbH begrüßt ebenfalls die Entscheidung. „Der Flughafen hat insgesamt 359 Millionen Euro für das Gesamtprojekt investiert, für unser Unternehmen ein hoher Beitrag“, so der Airport gegenüber dem SWR. Bereits im Jahr 2018 habe man die letzten Zahlungen geleistet und damit die vertraglichen Verpflichtungen vollständig erfüllt.
Verband Region Stuttgart: „Die Entscheidung schafft Klarheit“
Auch der Verband Region Stuttgart – als weiterer Projektpartner – freut sich über die Entscheidung des Verwaltungsgerichts. „Die Entscheidung schafft Klarheit“, so Alexander Lahl, Regionaldirektor des Verbands Region Stuttgart. „Jetzt ist es an der Zeit, dass alle Projektpartner ihre volle Kraft auf die erfolgreiche Inbetriebnahme von Stuttgart 21 richten.“
S21-Gegner kritisieren hohe Kosten des Verfahrens
Für das Aktionsbündnis gegen S21 ist es aus juristischer Sicht richtig, dass das „Schwarze-Peter-Spiel“ beendet wurde. „Allerdings fänden wir es moralisch ebenso gerechtfertigt, wenn die Projektpartner einen erheblichen Anteil daran zu tragen bekommen hätten“, schreibt das Aktionsbündis. Außerdem kritisieren die Gegner des Bahnprojekts, dass „zig Millionen Euro für teure Anwaltskanzleien und ganze Stäbe von Juristen bei den Streitparteien“ ausgegeben wurden. Das Aktionsbündnis fordert den Bund auf, die Finanzierung des geplanten Pfaffensteigtunnels zu stoppen und „die Milliarden für den ETCS-Ausbau des S21-Knotens an anderer Stelle zu investieren.“
Interessenverbände fordern Schutz des Verkehrshaushalts
Der Verbände „Mofair“ (ein Bündnis für fairen Wettbewerb im Schienenpersonenverkehr) und „Die Güterbahnen“ (ein Netzwerk von Unternehmen, die im Schienengüterverkehr tätig sind) machen darauf aufmerksam, dass die Deutsche Bahn die Kosten nicht aus dem eigenen „Cashflow“ stemmen kann. Weder der reguläre Verkehrshaushalt noch das geplante Sondervermögen dürften für ein fehlkalkuliertes Einzelprojekt herhalten, schreiben die Interessenverbände in einer gemeinsamen Mitteilung. Der Bund als Eigentümer der Bahn müsse nun einen Weg finden, um den Finanzbedarf zu decken – außerhalb von Verkehrsbudget und Sondervermögen.
Boris Palmer warnt: Kosten bleiben an Bahnkunden hängen
Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer warnte unterdessen vor Schadenfreude. Dass die Bahn die Kosten zahlen muss, „darüber könnte man sich ja freuen, wenn das nicht hieße, dass die Bahnkunden am Ende für den Unsinn aufkommen müssen“, schreibt er auf Facebook. Palmer, jetzt parteilos, früher bei den Grünen, hatte in den Jahren 2010 und 2011 als Vertreter der Projektgegner an der Schlichtung zu S21 im Stuttgarter Rathaus teilgenommen und sich maßgeblich beteiligt. Das Ganze sei ein „Trauerspiel“, kritisiert Palmer Planung und Bau des Bahnprojekts. „Selten gab es eine größere Fehlentscheidung.“
Knackpunkt: Wie ist die sogenannte Sprechklausel zu verstehen?
Im Zentrum des Rechtsstreits zwischen Bahn und Projektpartnern stand die Auslegung einer sogenannten Sprechklausel im 2009 geschlossenen Finanzierungsvertrag. Diese war für den Umgang mit möglichen Kostensteigerungen vereinbart worden. Darin heißt es: „Im Falle weiterer Kostensteigerungen nehmen die Eisenbahninfrastrukturunternehmen und das Land Gespräche auf.“
Dieser Ansicht war auch das Stuttgarter Gericht. Die Projektpartner hätten im Falle von Mehrkosten ausdrücklich die Aufnahme von Gesprächen verabredet, sagt der Vorsitzende Richter bei der Urteilsverkündung im Mai 2024. Daraus könne keine Verhandlungspflicht oder gar ein Anspruch auf Vertragsanpassung abgeleitet werden.
Neuer Tiefbahnhof, zahlreiche Tunnel
Das Projekt Stuttgart 21 steht nicht nur für den Bau des neuen Hauptbahnhofs in der Landeshauptstadt, sondern für die komplette Neuordnung des Bahnknotens Stuttgart. Gebaut werden neue Bahnhöfe – etwa ein neuer Fernbahnhof am Flughafen -, Dutzende Kilometer Schienenwege und Tunnelröhren, Durchlässe sowie Brücken.
Das Bahnprojekt Stuttgart-Ulm schließt neben Stuttgart 21 auch den Neubau der bereits 2022 eröffneten Schnellfahrstrecke Wendlingen-Ulm ein. Herzstück von Stuttgart 21 ist der neue unterirdische Hauptbahnhof, der im Gegensatz zum bisherigen Kopfbahnhof ein Durchgangsbahnhof sein wird. Gebaut wird an dem Projekt bereits seit 2010. Die Inbetriebnahme war bereits mehrfach verschoben worden. Vor wenigen Wochen hatte die Bahn angekündigt, Stuttgart 21 Ende 2026 nur teilweise in Betrieb nehmen zu wollen.