In der Ausstellung „Rendezvous der Träume“ zeigt die Hamburger Kunsthalle die Nähe des Surrealismus zur deutschen Romantik. Dabei lassen sich fantastische Werke entdecken. Aber wäre weniger hier vielleicht mehr gewesen?

Von Max Ernst bis René Magritte, von Meret Oppenheim bis Dorothea Tanning: 230 künstlerische Ikonen des internationalen Surrealismus zeigt die Hamburger Kunsthalle in diesem Sommer zum 100. Jahrestag der Gründung der Bewegung. Und nicht nur das. Die Bilder aus dem 20. Jahrhundert treffen auf 70 Meisterwerke der deutschen Romantik. 

Im Fokus der aktuellen Ausstellung stehen die geistesgeschichtlichen Beziehungen zwischen den beiden Kunstströmungen. Das „Rendezvous der Träume“ wird dabei allerdings zu einem Rendezvous des Gigantischen. 300 Kunstwerke und zahlreiche literarische Dokumente auf 2000 Quadratmetern. „Mehr ist mehr“ scheint das Credo des kuratorischen Konzepts zu sein. Leicht lässt sich dabei übersehen, dass der Ausgangspunkt der Mega-Schau ein ganz übersichtlicher ist. 

Kein Geringerer als Max Ernst, einer der wichtigsten surrealistischen Künstler, besuchte zu Beginn der 1960er-Jahre die Hamburger Kunsthalle. Schwer beeindruckt von einem Gemälde des romantischen Malers Philipp Otto Runge mit dem Titel „Der Morgen“ schuf Ernst eine Reaktion auf die Begegnung: „Ein schöner Morgen“ von 1965.

Ein Zweiter-Date mit sehr viel Publikum

Beide Bilder befinden sich seit 60 Jahren im Besitz des Museums. Nun werden sie erstmals gemeinsam präsentiert. Aber hätte dieses Zusammentreffen derart vieler weiterer Date-Teilnehmer bedurft? Immerhin meint „Rendezvous“ in seiner ursprünglichen Bedeutung eine Verabredung unter Verliebten. Oft heimlich, unbeobachtet und von Intimität gekennzeichnet. 

Von dieser ist beim Besuch der Ausstellung jedoch nicht besonders viel zu spüren. Dicht an dicht reihen sich Gemälde, Objekte, Installationen, Fotografien. Dazu kommen Dokumente, Bücher sowie historisches und zeitgenössisches Filmmaterial. 65 surrealistische Künstlerinnen und Künstler treffen in drei Sektionen mit insgesamt 15 Kapiteln auf 30 Positionen der Romantik. Ein Têtê-à-têtê sieht anders aus. 

Wobei es hier großartige (Wieder-)Entdeckungen gibt. Die surrealistische Malerin Toyen (1902-1980) etwa. Bereits 2021 widmete ihr die Kuratorin der aktuellen Ausstellung, Annabelle Görgen-Lammers, eine Einzelschau in der Hamburger Kunsthalle. Damals richtete sie den Fokus auf die „bedeutendste tschechische Künstlerin des 21. Jahrhunderts“.

Gleichstellung in der surrealistischen Besetzung

Nun ist Toyen, die sich mit ihrem künstlerischen Pseudonym schon früh normativen Geschlechter-Zuschreibungen entzog, mit dem Bild „Traum (Sen)“ von 1927 vertreten. Darauf zu sehen ist eine einsame Gestalt inmitten einer Ödnis. Die Zeit, angedeutet durch die Pendel an einem Felsblock, scheint an ihr zu nagen. Partiell zerfließt sie bereits in eine uneindeutige schwarze Substanz.

Positiv fällt auch die Gleichstellung in der surrealistischen Besetzung auf. Mit einem ausgewogenen Geschlechter-Verhältnis von 50 zu 50 werden hier in Sachen Sichtbarkeit weiblicher Positionen Nägel mit Köpfen gemacht. Klug gedacht und inhaltlich schlüssig ist auch die Einbettung in die schwierige Architektur des Hauses. Das Thema des Traums, der eng mit dem Unterbewusstsein verknüpft ist, bildet im Untergeschoss den Auftakt. Die Sektion „Wald“ folgt auf der Hauptetage, das Finale im Kuppelbau ist dem Kosmos gewidmet.

Im ersten Traum-Teil kann man sich in den vielen Kabinetten metaphorisch wie räumlich schnell in den Wirren und Abgründen der Zwischenwelt unterhalb des Verstandes verlieren. Was zunächst kuratorisch begründet erscheint, wird jedoch bald zur Belastungsprobe. Die schiere Dichte der Werke und der begleitenden Texte erschwert es zunehmend, den Faden nicht zu verlieren. Die an sich kompakte Idee, dass die Surrealisten maßgeblich von der Geisteshaltung der Romantik geprägt waren, wird mit einer Menge an Dokumenten belegt, die innerhalb einer Kunstausstellung nicht unbedingt Not getan hätte.

Cate Blanchett als Fels in der Brandung

Als Fels in der Brandung sticht innerhalb der theoretischen Zementierung eine Videoarbeit heraus. Sie zeigt einen Ausschnitt der Installation „Manifesto“ des deutschen Künstlers Julian Rosefeldt. In der Hauptrolle: eine Königin des Kinos, Cate Blanchett. 

In der gezeigten Sequenz rezitiert sie das 1924 erschienene surrealistische Manifest, verfasst vom französischen Schriftsteller André Breton. Auf zugängliche Weise wird der Text in dem Werk vermittelt. Als Besucherin wünscht man sich mehr derartige Kunstgriffe, dafür eine weniger erschlagende Menge an literarischen Zeugnissen.

Auch der zweite Teil der Ausstellung wartet mit gut gemeinten Hürden auf. Wieder leistet die Architektur einwandfrei ihren Dienst, geradlinig geht es durch mehrere kleine Räume hindurch. Unter dem Motto „Passagen“ verbindet der Gang die erste mit der zweiten Sektion. Flanieren war für die Surrealisten eine wichtige Inspirationsquelle, die architektonische Passage referiert auf Walter Benjamins gleichnamiges Standardwerk. In diesem beschreibt der Philosoph und Kulturkritiker den Wandel vom romantischen Wanderer hin zu den städtischen Flaneuren und Flaneusen des Surrealismus.

Aus dem Flanieren wird ein Verlieren

Nur: In Hamburg wird daraus ungünstigerweise ein Sich-Verlieren. Kunsthistorische Nebenschauplätze bieten Zusatzinformationen, die an sich spannend sind, vom Thema der Schau aber eher ablenken. Etwa die Geschichte um ein gefälschtes Werk de Chiricos. Gemalt wurde „Melancholie einer Straße“ (1941-1945) aus dem Besitz der Hamburger Kunsthalle nicht vom Meister der leeren Straßen und langen Schatten, Giorgio de Chirico (1888-1978), sondern vom spanischen Maler Óscar Domínguez (1906-1958). Erst 1970 gibt de Chirico selbst den Hinweis, dass das Gemälde nicht aus seiner Hand stammt. 

Ähnlich wie Domínguez kopierten auch andere Surrealistinnen und Surrealisten Werke de Chiricos – während der Besetzung Frankreichs durch die Nazis war Kreativität gefragt, um das eigene Einkommen zu sichern. Teils wurde mit dem Erlös auch die Widerstandsgruppe La Main à plume unterstützt. Die Transparenz, die die Kunsthalle mit der Aufarbeitung der Akte de Chirico bietet, ist zum Teil amüsant und äußerst selbstreflexiv. Zum Verständnis der Ausstellung trägt sie jedoch nicht bei. 

Auch die bewegte Geschichte um das 1922 von Max Ernst gemalte Bild „Rendezvous der Freunde“ wird hier filmisch erzählt. Die Bedeutung dieses Schlüsselwerks der surrealistischen Bewegung, auf dem Ernst 17 seiner Kolleginnen und Kollegen porträtierte, steht außer Frage. Wie es bei Ernsts früherer Galeristin Johanna Ey den Nationalsozialismus überstand, ist ebenfalls wichtig. Das Thema bedürfte in seiner Tragweite allerdings eines eigenen Kapitels und nicht unbedingt einer Randnotiz.

Weniger ist manchmal mehr

Die Dichte der Themen und Fakten bleibt in den folgenden Sektionen durchgängig hoch. Motive werden verglichen, die Bilder sollen visuelle Argumente für die Einflüsse des romantischen Gedankenguts auf die surrealistischen Kunst liefern, die in Texten proklamiert werden. Teils wirken die Gegenüberstellungen dabei etwas beliebig. Der gedankliche Impetus findet sich im bildnerischen Vergleich an vielen Stellen nicht wirklich wieder. 

Der kunsthistorische und geistesgeschichtliche Subtext dagegen ist derart umfassend, dass es enorm viel Zeit, einen Audioguide und im besten Fall Vorkenntnisse beider Bewegungen braucht, um der Fülle an Informationen beizukommen. Man ertappt sich beim Gedanken, dass weniger manchmal mehr ist. Vielleicht hätte die Kunsthalle in dem Fall besser daran getan, sich stärker auf den Ausgangspunkt der Ausstellung zu konzentrieren: dem Rendezvous von Max Ernst und Runge.