Wenn die Kinder erst einmal ausgezogen sind, bleibt ein leerer Raum zurück. Das dadurch entstandene Vakuum im Leben einer alleinerziehenden Mutter hat die österreichische Schriftstellerin Doris Knecht mit dem Erstellen „Einer vollständigen Liste aller Dinge, die ich vergessen habe“, so der Titel ihres letzten Romans, ausgefüllt. In den Umzugskisten des Übergangs von einer Phase in die andere, in der man beginnt, sich für Todesanzeigen zu interessieren, sammelt sich der Ertrag eines Frauenlebens: Manches davon kommt mit, anderes kann weg. Aber wie sieht es im Hinblick auf letzteres eigentlich mit Männern aus? Darauf gibt der neue Roman eine Antwort: „Ja, nein, vielleicht“.
Doris Knecht Foto: Heribert Corn
Doch zunächst drohen erst einmal neue Hohlräume, und zwar im Mund der Autorin, die man so nennen darf, weil die Ich-Erzählerin nicht nur bereitwillig Einblicke in das Innenleben ihrer Mundhöhle gewährt, sondern auch in die Entstehung eines Romans – desselben, den man gerade in den Händen hält. Ein Zahn ist dabei, sich zu verabschieden, Parodontose: „Jetzt bin ich ein beginnender Reparaturfall.“ Und es ist nicht der einzige. In ihrem Landhaus ziehen sich Risse durch Decken und Wände, unter dem Dach wütet ein unsichtbarer Marder, was, wie die Autorin bemerkt, ein wiederkehrendes Thema in der deutschsprachigen Literatur ihrer Generation zu sein scheint: „Unsichtbare Tiere, die in den Dächern rumoren, sie verängstigen uns und rauben uns den Schlaf.“
Dass sie sich zum Schreiben ihres neuen Romans aufs Land zurückgezogen hat, hängt mit einem weiteren Schadensfall zusammen. In ihrer Stadtwohnung rumort ein fremder Mann, den eine ihrer Schwestern eingeschleppt hat, die dort vorübergehend um Asyl gebeten hat, offenbar steht es in deren Ehe nicht mehr zum Besten. Mit diesem Kapitel hat die Autorin längst abgeschlossen: „Die meisten Männer machen einem nur Schwierigkeiten“, zumal wenn man wie sie ein Faible für Verrückte hat: „Narzissten, Borderliner, Depressive, Sexsüchtige, Junkies, whatever, ich kenne sie alle, und immer schnalle ich es erst hinterher, wenn der Vorhang schon gefallen ist.“ Doch damit soll Schluss sein. Ihre Zwillinge hat sie alleine aufgezogen und sich mit einem Leben jenseits aller Paarbildungen in heiterer Selbstgenügsamkeit arrangiert.
Unruhe in die abgeklärte Verabschiedung der Imperative einer „liebesbeglückungssüchtigen Gesellschaft“ bringen einzig die Wiederverheiratungsanstalten der besten Freundin – und die Begegnung mit einem früheren Bekannten im Supermarkt mit dem sie sich einmal, lange ist es her, in das neue Millenium geknutscht hat.
Solitäre Kauzigkeit
Und plötzlich schält sich dieser Friedrich bei einem zufälligen Besuch aus seiner Radlermontur, bekanntlich trägt man darunter nicht viel, um ein Bad in dem Flüsschen zu nehmen, das über ihr Grundstück fließt. Damit wären die Elemente beisammen. Und wenn Doris Knecht nicht eine so kluge Autorin wäre wie ihre Protagonistin, wüsste man nun schon ungefähr, wo es lang ginge, selbst wenn man nicht unbedingt auf den gemeinsamen Besuch eines Suzi-Quatro-Konzerts gekommen wäre: „Na kuckstu, Suzy Quatro, die gibt es auch noch, wie alt muss die denn jetzt sein.“ Aber so leicht gibt man nicht preis, was man sich aufgebaut hat – ohne Männer. Die Freiheit, sich nicht mehr für einen fremden Blick aufbrezeln zu müssen, den Gang der Dinge einigermaßen gelassen beobachten zu können, die eigene Hinfälligkeit, auch wenn sie sich zunächst vorwiegend im dentalen Raum abspielt.
Aber man sollte das Erzählen des zwischenmenschlichen Geschehens der überlassen, die etwas davon versteht. Und sich stattdessen auf die Beziehung konzentrieren, die sich zwischen den Lesenden und der Autorin entspinnt. Denn während die Protagonistin das Für und Wieder eines Abenteuers in reiferen Jahren erwägt, ob ein Friedrich nun in ihrem Leben Platz hätte, oder lieber doch nicht, verströmt die Lektüre die ganze Kunst einer reifen Schriftstellerin: die feine Balance zwischen Witz und Ernst, Selbstpreisgabe und Stolz, solitärer Kauzigkeit und utopischem Gemeinsinn. Cooler wurde selten über das Altern geschrieben, entspannter der Feminismus nicht verteidigt. Wer über diese Gaben verfügt und einen Sinn für Rhythmus, das Ineinander gepflegten Satzbaus und lockerer Umgangssprache, kann es sich leisten, die Ratschläge der Lektorin in den Wind zu schreiben und Figuren einzuführen, die machen, was sie wollen.
Dem entstehenden Roman bekommt der Landaufenthalt mindestens so gut wie der Schwester die Auszeit von ihrer Ehe. Auch wenn es am Schluss zu regnen beginnt, in diesem Übermaß, an das man sich wohl gewöhnen muss. Der Bach tritt über die Ufer. Was das für die Leidenschaften bedeutet? Jedenfalls denkt man mit einem Gefühl an dieses Buch zurück, das man durchaus mit romantischer Liebe verwechseln könnte.
Info
Autorin
Doris Knecht, 1966 in Vorarlberg geboren, ist Kolumnistin (u. a. beim Falter und den Vorarlberger Nachrichten) und Schriftstellerin. Sie lebt in Wien und im Waldviertel.
Werk
Der erste Roman von Doris Knecht, „Gruber geht“ (2011), war für den Deutschen Buchpreis nominiert und wurde fürs Kino verfilmt. Zuletzt erschienen „Wald“ (2015), „Alles über Beziehungen“ (2017), „weg“ (2019) und „Die Nachricht“ (2021). Die Verfilmung von Wald kommt im Herbst 2023 in die Kinos. Sie erhielt den Literaturpreis der Stiftung Ravensburger und den Buchpreis der Wiener Wirtschaft.